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Free Ride   18.07.2013   Chemnitz, Subway To Peter
von rls

Viele Metalcore-Kapellen leiden unter einem songwriterischen Grundproblem: Sie versuchen, dem Hörer in kurzer Zeit ein Füllhorn an Ideen vorzustellen, vergessen aber dabei, diesen Ideen Raum für ihre Entfaltung und Weiterentwicklung zu geben. Das ergibt dann austauschbar wirkende Gebilde, die ihren Effekt ausschließlich aus eben der Ideenfülle und deren technischer Umsetzung beziehen. Dieser Gefahr versuchen Free Ride zu entrinnen: Sie spielen ebenfalls Metalcore an der Grenze zum melodischen Death Metal (passend zu dieser Verortung gestaltet sich auch der optische Aspekt - fünf Kurzhaarige in Metalcore- oder Normalo-Optik werden durch einen Langhaarigen am Keyboard ergänzt), aber da sie ihre Ideen weiter ausgestalten und ihnen sozusagen Luft zum Atmen lassen, ergeben sich dann Songlängen von durchaus mal sieben oder acht Minuten, da die gesamte Ideenflut natürlich trotzdem vorgestellt werden muß (daß sie aber auch Vierminüter schreiben können, die nicht etwa amputiert wirken, beweisen sie etwa mit dem auch in Chemnitz gespielten "Pop 2"). Die meisten Entwicklungen innerhalb der Songs ergeben sich logisch, bisweilen so logisch, daß man die nächste Passage auch dann ahnt, wenn man den jeweiligen Song vorher noch nie gehört hat. Das dürfte der progressiven Fraktion mißfallen, aber derjenigen, der stringentes Songwriting wichtig ist, durchaus gut reinlaufen, und so wäre Free Ride zu wünschen, daß sie einen fähigen Geschäftspartner finden, der sie unter Vertrag nimmt, bevor ihr Stil völlig anachronistisch wirkt. Bisher haben die Kroaten nämlich nur eine EP namens "All The World Ignores" (welche Ironie!) und eine Single namens "The Fallback Plan" in Eigenproduktion herausgebracht, und die gibt es noch nicht mal in der Merchandise-Ecke des Kellerclubs Subway To Peter, sondern nur zwei T-Shirt-Motive - vielleicht haben die Fans auf den bisherigen Dates der Do-it-yourself-Europatournee, die die Band plus Fotograf und Merchmann, also acht Personen, im VW-Bus kreuz und quer durch den Kontinent führt, schon alle mitgenommenen Tonträger gekauft. Das Ganze hat was von einem Ferienausflug - ein Eindruck, der dadurch verstärkt wird, daß Leadgitarrist Ivan in Bermudas und Badeschlappen spielt und sein Gitarrenkollege Kristijan zwar auf Turnschuhe, aber in puncto Hosenmode auf den gleichen Trumpf setzt, ohne daß Free Ride musikalisch nun aber tiefergehende Affinitäten zu Anthrax oder den Suicidal Tendencies pflegen würden.
Jedenfalls spielt der Merchmann die Gitarren warm, bevor die Band irgendwann kurz vor 23 Uhr auf die nicht vorhandene Bühne steigt und sich auf dem wenigen zur Verfügung stehenden Platz so gut wie möglich arrangiert, was dazu führt, daß Bassist Marko meist ganz hinten jenseits einer Säule versteckt ist und nur ab und zu mal vor dieser sichtbar wird. Zu hören ist er allerdings gut, und das Gesamtklangbild ist zwar einen Tick zu laut, wäre aber durchaus als ausgewogen zu benennen, wenn man nur die klassische Metalinstrumentierung hernimmt - Keyboarder Marin hört man nach dem Intro nämlich lange Zeit kaum noch, was schade ist, da er im Material durchaus für eine gewisse eigenständige Note sorgt, wie man aus den Studioversionen weiß. Die fehlt dann live über weite Strecken und kehrt erst gegen Setende eine Dreiviertelstunde später wieder - dort haben Free Ride nämlich ihre epischeren Songs plaziert, und in deren ruhigeren Passagen hört man auch das Keyboard wieder. Bis dahin hat der Hörer aber schon den Eindruck eines durchaus energischen, wenngleich tempotechnisch selten über mittlere Lagen hinausgehenden Sextetts gewonnen, das mit Pavao zudem über einen Aktivposten am Mikrofon verfügt, der sich einen leeren Bierkasten als Ersatz für die nicht vorhandene Monitorbox ausleiht, um mit einem daraufgestellten Fuß eine klassische Rocksängerhaltung einzunehmen, der aber auch mit stimmlicher Vielfalt zu überzeugen weiß und auch in den Cleanpassagen nicht peinlich oder hilflos wirkt, wie man das bei manchem Stilkollegen feststellen muß. Den Refrain von "Taking Everything" singt das Publikum nach kurzer Einweisung begeistert mit, und ein älterer Besucher im "Metalcamp 2007"-Shirt wird seiner Begeisterung in der ersten Reihe kaum Herr und fällt vor dem Sänger immer wieder auf die Knie, die Arme flehentlich nach oben gerichtet, während ein anderer Besucher ebenfalls in der ersten Reihe vom Sänger immer mal das Mikrofon hingereicht bekommt, da er zielgerichtet hohe und lange powermetalkompatible Schreie auf dem Grundton der passenden Tonart von sich gibt, obwohl er das Material kaum gekannt haben dürfte. Das spricht wieder für die gewisse Ausrechenbarkeit der Musik von Free Ride, die aber trotzdem oder gerade deswegen zumindest live ein enormes Unterhaltungspotential zu entfalten imstande ist. So fordert die kleine, aber sehr angetane Besucherschar folgerichtig eine Zugabe ein, aber da die Kroaten nicht mehr Material einstudiert haben, spielen sie kurzerhand den Setopener noch ein zweites Mal und rahmen die reichliche Dreiviertelstunde damit auf hohem Niveau.



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