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Latvian Voices   31.05.2013   Leipzig, Michaeliskirche
von rls

Hochwasser behindert den Weg des Rezensenten von Altenburg nach Leipzig - erst der vierte Pleißeübergang ist geöffnet, und so ist die planmäßige Startzeit 20 Uhr bereits überschritten, als der geplagte Schreiber endlich am Nordplatz in Leipzig eintrifft. Aber auch der Konzertbeginn verschiebt sich geringfügig nach hinten, so daß der Rezensent nichts verpaßt und kaum seinen Platz in der ersten Reihe rechts außen eingenommen hat, als es auch schon losgeht - noch nicht mit dem Konzert, sondern mit der Bekanntgabe der Gewinner im 7. A-Cappella-Wettbewerb, der in bewährter Weise ins Programm des A-Cappella-Festivals eingeflochten worden ist. Er endet mit einer Überraschung: Die Jury befand, daß sich keiner der acht Finalisten so weit herausgehoben hat, daß er einen ersten Preis rechtfertigen würde. Statt dessen gibt es zweimal einen zweiten Preis, und den teilen sich die Esten Mixtur und die Georgier The Quintessential Five, die dann anno 2014 auch das Preisträgerkonzert gemeinsam bestreiten werden. Die blutjungen Georgier (Durchschnittsalter: 14!) haben darüber hinaus auch das Wettbewerbspublikum am stärksten überzeugt und den Publikumspreis eingeheimst, während das Bolongaro-Sextett für seine Interpretation von Brahms' "Vineta" den von den Festivalveranstaltern Amarcord ausgelobten Sonderpreis für das beste ohne tontechnische Unterstützung vorgetragene Lied bekommt.
Latvian Voices hatten den Wettbewerb anno 2012 gewonnen, und das der Preisverleihung folgende Konzert ist demzufolge ihr Preisträgerkonzert. Daß die Damen offensichtlich verdient gewonnen haben, ist nach den nun folgenden knapp zwei Stunden allen Besuchern der bis auf den letzten Platz gefüllten Kirche klar. Zwar heißt das Programm "Rutoj - Sirenengesang aus dem Baltikum", aber der Sirenenaspekt bezieht sich lediglich auf das einnehmende Wesen ihrer Musik, weniger auf ein sehr sopranlastiges Gestaltungskonzept, und ob die partiell auch optisch sehr reizenden Damen hinterher ihr Publikum verschlingen, kann der Rezensent auch nicht beantworten - er ist jedenfalls lebend davongekommen :-) Aber sie stehen wie alle Lettinnen auf Fischer, lautet die Ansage zu "Zvejniks mani aicinaja", das textlich eine dann doch scheiternde zarte Romanze zwischen einem Fischer und einem jungen Mädchen behandelt - unglücklicherweise sind keine Fischer im Leipziger Publikum. Pech gehabt ... Und der alte Schmachtfetzen "When I Fall In Love", der eigentlich im Programm abgedruckt ist und nach dem den Damen die Heiratsanträge nur so hätten entgegenfliegen müssen, wird kurzfristig durch Seals eher mäßiges "Kiss From A Rose" ersetzt - wieder Pech gehabt ... Die genannten Werke machen schon die Vielschichtigkeit des Programms deutlich. Die erste Hälfte besteht aus acht lettischen Volksliedern plus zwei Eigenkompositionen von Sopranistin Laura Jekabsone (die Mädels mögen dem Rezensenten den Verzicht auf die ganzen lettischen Sonderzeichen in den Namen wie den Songtiteln nachsehen), wobei diese auch für einen guten Teil der Volksliedarrangements verantwortlich zeichnet. Das Gros des Restes stammt von ihrer Soprankollegin Nora Vitina (nur echt mit Desireless-Gedächtnisfrisur und als einzige der sieben Damen nicht in Gelb oder Schwarz-Gelb, sondern mit dominierendem Grauton in der Kleidung), und die Unterschiede in der Arrangierweise sind äußerst interessant: Jekabsone geht im positiven Sinne des Wortes relativ konventionell an die Arbeit, Vitina dagegen arbeitet nicht selten mit gewagten bis aberwitzigen harmonischen Strukturen, die sich anhand des einmaligen Hörens oft noch nicht endgültig erschließen lassen. Daß natürlich auch Jekabsone keineswegs eindimensional arbeitet und etwas von Spannungsaufbau versteht, zeigt eindrucksvoll "Ej, saulite, driz pie Dieva" mit seinem Dynamikbogen vom fragilen Pianissimo hin zu großer Energieentfaltung. Viele lettische Volkslieder besitzen einen traurigen Unterton, den etwa Vitina in "Es gulu, gulu" auch sehr deutlich und ergreifend herausarbeitet, aber es gibt auch humoristische Szenarien wie in "Skaisti dziedi lakstigala", einem Sopranistinnenwettstreit, der damit endet, daß die unterlegene Jekabsone zur Dirigentin befördert wird. Der kleine Charpentier-"Te Deum"-Schlenker im Finale von "Vindo" schlägt dann schon die Brücke zur zweiten Konzerthälfte.
Selbige ist dann paneuropäisch bestückt und vollführt auch zeitlich weite Sprünge vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Bob Chilcotts "Making Waves" erweist sich da als durchaus gewöhnungsbedürftiger Auftakt, auch der flockige Charakter von "All Creatures Now Are Merry Minded" von John Bennet kann nicht komplett durchgehalten werden. Dafür überzeugt die sehr naturalistische Darstellung von Thomas Weelkes' "The Nightingale", wobei die Lettinnen das altenglische Vorbild, also die Nachtigall, trotz gegenläufiger Ansage eigentlich gar nicht aus eigener intensiver Anhörung kennen dürften - schließlich lebt in Lettland planmäßig der osteuropäische Vertreter der Nachtigall, der Sprosser. Dafür liegt den Damen ohrenhörlich die spröde, unterkühlte Harmonik von Griegs "Ave Maris Stella" (was für Höhen, was für ein schlichtes "Amen" nach denselben!), aber auch das wilde polyphone Dickicht von Jacobus Gallus' "Ascendit Deus" durchholzen sie mit größter Eleganz. Nicht einmal vor einer Vokalisen-Version eines Bach-Präludiums schrecken sie zurück, das Arrangeurin Vitina im zweiten Teil in Soloduelle umgewandelt hat, und die Feinheiten gehen so weit, daß einige der Sängerinnen mit Händen vor dem Mund ein Orgel-Schwellwerk imitieren. Durchaus interessant ist auch Vitinas harmonisch herbes, allerdings mit einigen witzigen Einlagen aufgepepptes Arrangement von "Lion Sleeps Tonight", während "I Still Haven't Found What I'm Looking For" und "Stand By Me" die einzigen kleinen Problemfälle des Abends hervorrufen: Jekabsones Sopran wird hier zu stark von den Begleitstimmen verdeckt, und für "Stand By Me" ist ihr glockiger Sopran ganz einfach auch zu hell - vielleicht sollte hier Altistin Elina Smukste, die eine etwas souligere Stimme hat, die Leadvocals übernehmen. Das Publikum stört sich daran freilich wenig - es feiert die sieben Rigaerinnen frenetisch (und, was die Gesamtleistung angeht, auch hochverdient!), und diese beschließen den regulären Konzertteil mit "O Salutaris Hostia", einem äußerst feierlichen Werk des lettischen Gegenwartskomponisten Eriks Esenvalds, in dem viel Spannung liegt, die das Publikum danach leider nicht stehen läßt. Natürlich sind Zugaben Pflicht: "Tanzen und Springen" kommt in einem traditionellen Satz (die Wahl ist programmatisch - da kommen "schöne Jungfrauen in grünen Auen" vor ...), und obwohl danach das Kirchenlicht schon wieder angeht, kehren die sieben Damen noch einmal zurück und legen noch ein sehr lautmalerisch arrangiertes lettisches Regenlied aus eigener Feder namens "Lietus" nach, das dann Tage später zur Flutung halb Sachsens beiträgt, könnte man als schwarzhumoriger Witzbold vermuten, zumal bei der Abreise aus Riga am Vortag dort die Sonne geschienen habe. Danke auch ... (Und für das Konzert - ironiefrei - auch! Selbiges ist übrigens vom Deutschlandfunk mitgeschnitten worden - der derzeit noch nicht feststehende Sendetermin wird auf www.a-cappella-festival.de bekanntgegeben.)



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