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Landesjugendorchester Sachsen: Die Welt von gestern   03.11.2012   Leipzig, Gewandhaus
von rls

20 Jahre ist das Landesjugendorchester Sachsen mittlerweile alt, 43 Konzertprojekte hat man in dieser Zeit auf die Beine gestellt. Ein Grund zum Zurückblicken in die Welt von gestern? Jein. "Die Zukunft kommt aus der Welt von gestern", schreibt Dirigent Milko Kersten im Programmheft, die Setlist des Jubiläumskonzertes vereint Werke von gestern und heute (während, für ein heutiges Orchesterkonzert eher ungewöhnlich, kein Werk von vorgestern, also aus dem 19. Jahrhundert oder noch früher, auf dem Programm steht), und im Orchester spielen diesmal nicht nur die aktuellen Orchestermitglieder, sondern auch ein paar Ehemalige und einige der Dozenten, die in den Vortagen das anspruchsvolle Programm mit den Jugendlichen erarbeitet haben.
Und dieses Programm fällt erstmal durch seine ungewöhnliche Struktur auf. Dmitri Schostakowitschs 15. Sinfonie, seine letzte, würde normalerweise den hinteren Programmteil besetzen - hier dagegen stellt sie das Eröffnungsstück dar. Gut, die Zeiten, in denen man Schostakowitsch noch als Publikumsschreck einsetzen konnte, sind zum Glück vorbei, aber gerade dieses Abschiedswerk als Opener einzusetzen ist zumindest mutig. Der Mut wird allerdings belohnt. Schon im einleitenden Allegretto überzeugen die flotten Flöten und geben nur den Auftakt zu einer Ansammlung von starken Einzelleistungen, von denen dieser Satz (planmäßig!) lebt. Und solange man als Projektorchester so eine Lockerheit auch in der großen Geste des Tutti hinbekommt, ist erstmal alles im grünen Bereich. Der dehnt sich auch problemlos in die Schwärze des folgenden Adagio aus: Auch ein paar Ansatzholperer können den stimmungsmäßig wunderbar trüben Blechchoral nicht verhageln (in der wiederholung klappt das technisch dann besser), das Solocello kann förmlich Herzklappen zerschneiden, die Posaunen-Tuba-Duette mixen viel Dunkelheit gekonnt mit winzigen Lichtpunkten, und Dirigent Kersten entwickelt den angetäuschten Triumphmarsch ebenso gekonnt wie er ihn wieder abwürgt. Viel Spannung liegt in diesem Satz, während der kurze dritte, wieder ein Allegretto, im wesentlichen von seiner Kombination aus Spannung und Übermut lebt (das an Eindringlichkeit kaum zu überbietende Fagottmotiv aus der Einleitung muß hier genannt werden). Auch der Finalsatz enthält weitere Beweise für das Können von Orchester und Dirigent. Kersten schüttelt den Übergang vom finsteren Intro in den fast lieblichen Streicherpart förmlich aus dem Ärmel, das Stakkatoblech leistet jetzt Präzisionsarbeit, und der schleppende Ausbruch ist an Massivität kaum zu überbieten. Zwar kommt die kleine Trommel im Zusammenbruch fast noch zu intensiv rüber, aber dafür entschädigen die exzellenten düsteren Hintergrundwirkungen des großen Gongs. Meisterlich gelingt auch der Schluß: Die Streicherfläche mit vereinzeltem Schlagwerk erzeugt eine enorme Spannung, die lange steht, bevor der befreiende Applaus losbricht, den die Konzertmeisterin mit ihrem Aufbruch allerdings erstaunlich früh beendet.
"Time Blast" von Alexander Keuk ist nach der Pause als Uraufführung zu hören, ein zehnminütiges Stück für Cello, Klarinette, Horn und Orchester, das quasi den alten Wilhelm-Busch-Sinnspruch "Eins, zwei, drei, im Sauseschritt läuft die Zeit - wir laufen mit" in Neuton-Eklektizismus umsetzt. Das beinhaltet einige durchaus interessante Elemente wie das Uhrticken aus dem Schlagzeug, das man einige Zeit sogar als strukturimmanenten Baustein des ganzen Stückes begreifen möchte, bis es dann allerdings verschwindet, oder einige gelungene sinistre Effekte im ansonsten eher durch das klassische Verdikt "Viel Lärm um nichts" zu beschreibenden Einleitungsteil. So richtig spannend wird das Stück erst nach dem großen Zentralausbruch: Finstere Steigerungen münden in eine Kakophonie, der ein weiches Klarinettensolo entgegengesetzt wird, bevor ein sich verdichtender, mobartiger Sprechpart für neuerliche Unheimlichkeit sorgt. Leider macht sich danach wieder eine gewisse Beliebigkeit breit, unterbrochen nur vom gelungenen Choral aus Violinen und Tuba (sowas muß man sich heute erstmal zu schreiben trauen). Der ausfadende Schluß erzeugt auch nochmal viel Spannung, und für eine Uraufführung, noch dazu eine kompositorisch, soweit man das vom einmaligen Hören her beurteilen kann, nur partiell überzeugende, ertönt danach doch erstaunlich viel Applaus.
Karol Szymanowskis 1. Violinkonzert, mitten im Ersten Weltkrieg entstanden, bildet den Schluß des Konzertes. Als Solist agiert hier mal kein Jungtalent, sondern Albrecht Winter, als Chef des Salonorchesters Cappuccino und des Neuen Bachischen Collegium Musicum im Leipziger Musikleben eine feste Größe und an diesem Abend im Gewandhaus überraschend weit hinten postiert, was freilich mit der Einschätzung im Programmheft korrespondiert, es handele sich hier nicht um ein traditionelles Solokonzert, sondern mehr um eine einsätzige Sinfonie mit etwas herausgehobener Solovioline. Das Stück beginnt burlesk, wird aber von Elegien durchsetzt, die an französische Kathedralmusik erinnern, während die Harmonik vieler Teile eher in die Zukunft weist und die treibenden Passagen vor dem 1. Ausbruch gar Erinnerungen an "Fluch der Karibik" ins Hirn zaubern. Danach bekam Szymanowski offenbar Angst vor der eigenen Courage und geht, beginnend mit den an Mahler erinnernden epischen und mit großen Bögen gemalten Düsterpassagen, zwei Schritte in der Musikgeschichte zurück. Winter fügt sich programmgemäß dem Orchesterkorpus eher ein, als aus ihm hervorzustechen, die Feinabstimmung klappt zumeist, und die Kadenz gerät eher impressionistisch, bevor Ultrabombast in einen witzigen Schluß mit Kontrabaßzupfern überleitet. Dieser Eklektizismus gefällt dem Publikum so gut, daß es Winter noch zu einer Zugabe überredet, bevor es zufrieden von dannen zieht. Auf die nächsten 20? Auf die nächsten 20!



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