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Leipziger Universitätsorchester   01.07.2012   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Auch im Sommersemester 2012 hat das Leipziger Universitätsorchester wieder ein buntes, unterhaltsames und anspruchsvolles Konzertprogramm eingeprobt, das in traditioneller Weise am Semesterende in zwei Konzerten der Öffentlichkeit präsentiert wird. Dabei gelingt bisweilen die eine oder andere Entdeckung: Georges Bizet kennt man logischerweise als Komponist von "Carmen", aber seine "L'Arlesienne-Suite Nr. 1" ist im heutigen Konzertleben deutlich seltener präsent, trotz des Mini-"Hits" im vierten Satz. Vor diesen hat der Komponist aber den ersten, zweiten und dritten gesetzt, und gleich der erste namens "Prélude" macht richtig Hörspaß. Das Streicher-Unisono-Gesäge kommt sauber, aber nicht steril, das Holz addiert ein schönes Element, und Dirigent Raphael Haeger findet auch einen Weg, das anspruchsvolle Tempomanagement ansprechend zu lösen. Die Monumentalität der Klimax kommt tatsächlich monumental, aber nicht laut von der Bühne geschallt (das muß man auch erstmal hinbekommen), der Übergang in den ruhigen Teil holpert zwar leicht, transportiert aber eine wunderbare Stimmung, und auch das folgende Instrumentengestreichel überzeugt in emotionaler Hinsicht. Dann noch ein Anschwellen zur großen Geste bei gut bewältigter Schichtung, und der Boden für die folgenden Sätze ist erfolgreich geebnet. Da fährt das Minuetto gekonnt umgesetzte, fast call-and-response-artige Dialoge auf und besticht durch einen unaufdringlichen, aber prägenden Groove, da schichtet Haeger im Adagietto die einzelnen Ebenen so behutsam aufeinander, daß trotz der zwischenzeitlichen kurzen Anschwellungen ein höchst fragiles Gebilde entsteht und man im Pianissimo-Ausklang die Spannung förmlich mit Händen greifen kann - und dann kommt ja noch der vierte Satz, der "Carillon" überschriebene Mini-Hit. Den nimmt Haeger locker, aber durchaus gravitätisch, während er den holzdominierten Zwischenteil wieder fast entrückt klingen läßt, bevor er schrittweise den merkwürdigen, aber wirkungsvollen und gut umgesetzten Bombastschluß, der wieder das Glockenmotiv präsentiert, entwickelt. Guter Stoff!
Hernach kommt es zum Umbau auf offener Bühne, denn für George Gershwins "Rhapsody In Blue" wird ein Klavier benötigt, und das gut gelaunte Publikum begrüßt dieses, als es aus den Tiefen des Bühnenbodens nach oben gehievt wird, mit Applaus. Freilich hält die gute Laune zumindest in musikalischer Hinsicht nicht lange an: Die Klarinette versemmelt gleich das Intro, und Álvaro Campos Jareno entpuppt sich zwar als solider Pianist, spielt aber sehr akademisch, und das Miteinander mit dem Orchester will auch lange Zeit nicht so richtig funktionieren, weder im Tutti noch bei Einzeldialogen wie mit dem Horn. Da können die Jazzpassagen mit den Slapbässen schon mehr, auch die Orchestermonumentalität sitzt, wenn sie gebraucht wird in diesem Konglomerat der Musikgeschichte. Aber das reicht eben nicht, auch wenn sich Haeger um Ordnung und Linie bemüht. Er schafft es zudem, den massiv-schleppenden Schlußteil am Anfang so weit zurückzunehmen, daß man das Banjo, sonst ein klassischer Unterbutterkandidat, noch hört. Im nächsten großen Solo entwickelt Jareno dann endlich so etwas wie Leben, zumindest Anflüge davon, aber mancherlei Unordnung im Schlußteil macht die positiven Ansätze schnell wieder zunichte, und das Gesamtbild überzeugt an diesem Abend nicht. Das Publikum stört sich daran nicht und feiert trotzdem begeistert, kann aber Jareno nicht zu einer Zugabe überreden.
Ein etwas akademischerer Touch ist beim nächsten Werk dann eigentlich sogar geboten, obwohl die 2. Sinfonie von Johannes Brahms gegenüber der 1., mit der sich der Komponist jahrzehntelang herumgequält hatte, bis er sie endlich fertig hatte, geradezu vor Optimismus und Lockerheit sprüht - aber eben im Kontext des kühlen Norddeutschen. Haeger scheint aber eine ganz andere Strategie fahren zu wollen: Er nimmt die Einleitung des 1. Satzes recht verträumt und meißelt auch den Themenblock nur mit relativ wenig Markanz heraus. So geht's dann auch weiter: Das Orchester erzeugt schöne fließende Wirkungen, aber wenig Schärfe, und die Durchführung plätschert anfangs ziemlich dahin, bevor sie dann doch noch etwas an Dramatik gewinnt. Dann kehrt sich kurioserweise das Bild um: Die Bombastparts sitzen donnernd und paßgenau, dafür kommt es in den ruhigeren Parts zu etlichen Wacklern bei den Einsätzen. Der flotte Groove im Satzausklang versöhnt aber wieder mit einigen der Problempunkte.
Im Adagio non troppo gestaltet Haeger die Eingangsfinsternis noch relativ licht, aber der Melancholiefaktor des Solohorns nimmt später doch beträchtliche Ausmaße an - da verzeiht man das eine oder andere Treffsicherheitsproblem im Zusammenspiel mit dem Holz gern. Auch im weiteren Verlaufe des Satzes ist Haeger wie Brahms nichts an allzutiefen Abgründen gelegen, statt dessen kommt sogar recht viel Energie von der Bühne, und die Schlußschichtung funktioniert tadellos.
Für ein Amateurorchester bildet das Allegretto grazioso an dritter Satzposition eine gewisse Herausforderung: Die zügigeren Teile mit einer gewissen grundsätzlichen Leichtigkeit zu intonieren, ohne daß die Exaktheit des Spiels leidet, das muß man erstmal hinbekommen - aber das schaffen die Studenten des Orchesters, die ansonsten Medizin, Buchwissenschaft oder Biologie studieren, ohne größere Anstrengungen. Der kurze Satz besticht in der Fassung dieses frühen Abends außerdem noch mit einem nützlichen Groove (er ist da, wenn er nötig ist) und gut ausziselierten Dialogen.
Die Tugend, auch schnellere Passagen exakt zu spielen, wird dann auch im vierten Satz gebraucht. Das Intro deutet schon den Ausbruch an, der auch schnell kommt. Danach aber kehrt die teutonische Erdenschwere "programmgemäß" zurück, und man entdeckt ganz erstaunt eine Parallele zum ätherischen Beginn des ersten Satzes von Mahlers 1. Sinfonie. Das Powermanagement Haegers weiß ebenfalls zu überzeugen: Da er zuvor weit vom Dynamikgipfel entfernt war, muß er sich jetzt nicht mal besonders anstrengen, um seinen Studenten die Exzelsior-Schlußschichtung abzuverlangen. Das machen die mit Vergnügen und werden mit sofortigem Applaus, noch ehe der Schlußton richtig verebbt ist, belohnt.
Die Stammhörer der Konzerte dieses Orchesters wissen natürlich, daß jetzt noch eine kuriose Zugabe folgt - und das ist auch an diesem Tag, in dessen weiterem Verlauf Spanien das Fußball-EM-Finale mit 4:0 gegen Italien gewinnen wird, so. Da man schon einmal mit Bizet angefangen hat, bleibt man auch bei ihm und holt "Carmen" aus der Versenkung, allerdings wieder mit mancherlei bekannten wie neuen Gimmicks. Zu letztgenannten zählt der Rollentausch: Alle sitzen völlig durcheinander, den Stimmton gibt das Horn an, und am Konzertmeisterpult befindet sich ein Kontrabassist. Haeger ist als Matador verkleidet, im Orchester sieht man rote Schärpen, Blüten im Haar oder orangefarbige Hörner a la AC/DC, Bierflaschen werden mit einem lauten Ploppgeräusch geöffnet, und auf die rotierenden Celli, die es diesmal kurz vor Schluß des Triumphmarsches gibt, wartet der Stammgast förmlich schon. Im letzten Teil geht Haeger kurzerhand von der Bühne und läßt die Musiker allein zu Ende spielen - wieder ein toller Spaß, der übrigens ländertechnisch nicht speziell vorbereitet worden ist: Falls Spanien im Halbfinale, also nach dem ersten Konzert mit diesem Programm, das in Weißenfels über die Bühne ging, ausgeschieden wäre, hätte man keinen Plan B in der Hinterhand gehabt. Aber auch so paßt alles, und ein gut gelauntes Publikum strömt hinaus in den frühen Abend an die Fernsehgeräte, zum Public Viewing oder bewußt an fußballfreie Orte.



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