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Die Fledermaus   18.06.2012   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Mit manchen künstlerisch umgesetzten Stoffen ist es ja so, daß sie eine beeindruckende Zeitlosigkeit aufweisen und bisweilen nur eines kleinen Updates bedürfen, um in einer anderen Zeit aktuell zu wirken, ohne daß man krampfhaft versuchen muß, neue oder alternative Denk- und Deutungsmuster zu entwickeln. Das gilt auch für "Die Fledermaus", von der Regisseur Matthias Oldag zu Recht festhält, mit ihrer Schilderung hedonistischer Verhaltensweisen auf dem Drahtseil über dem Feuersee der Katastrophe sei sie 1874 so aktuell wie 2012. Ergo steht das Johann-Strauß-Werk für das 2012er Opernprojekt der Hochschule auf dem Plan und erlebt kurz vor der Sommersonnenwende fünf exzellent besuchte Veranstaltungen, von denen der Rezensent die vierte erlebt. Das Programmheft versammelt einige Meldungen und Geschehnisse, die in direktem Zusammenhang mit der Uraufführung des Werkes im Frühjahr 1874 stehen - es beleuchtet also, von einer kurzen Übersicht abgesehen, kaum die gesellschaftlichen Hintergründe, aber das muß es auch nicht, denn es bietet genügend Anregungen und Diskussionsstoff, für den nicht zuletzt der schon arrivierte Kritiker Eduard Hanslick sorgte.
Was das Programmheft nicht verrät, ist, wer die neuen Dialogtexte geschrieben hat. Dafür sorgt es schon vorab für eine Überraschung: Dreieinhalb Stunden Spielzeit, wo doch die gängigen Operettenführer zweieinhalb angeben? Unterm Strich sind es dann tatsächlich etwas über drei Stunden, und die Verlängerung speist sich im wesentlichen eben aus den neuen Dialogtexten, die relativ ausführlich ausfallen, gleichermaßen Humor wie Doppelbödigkeit aufweisen und sich somit bestens ins Gesamtbild einfügen. Für dessen Rahmen ist die Bühnentechnikabteilung verantwortlich, und die baut im ersten Akt eine Wohnung ohne Wände, dafür aber mit Grundriß- und Flächenangaben, wie sie in heutigen Wohnungsanzeigen üblich sind. Daß Gabriel von Eisenstein die Party bei Prinz Orlofsky als "Russenorgie" tituliert, obwohl Orlofsky laut Original-Libretto tscherkessischer Herkunft ist (also einer der mehreren hundert kaukasischen Völkerschaften angehört, die sich mit den Russen jahrhundertelange Guerrillakriege lieferten), könnte als blitzgescheiter Einfall der Kreativabteilung gewertet werden, darauf hinzuweisen, wie wenig der durchschnittliche hedonistische Mitteleuropäer doch heutzutage über die Verhältnisse bei den östlichen Nachbarn weiß. Selbige Party wird dann allerdings tatsächlich recht orgiastisch, was nicht nur die Bunny-Ohren einiger Gästinnen andeuten. Interessanterweise zeichnet Oldag Orlofsky als die auffälligste Person seiner ganzen Inszenierung, nämlich als Mixtur aus Domina, Gothic-Lady und Gene Simmons. Für Lachstürme im Publikum sorgt die Praxis, die Staatsdiener in ihrem heimatlichen (oder einem von ihnen auf natürlich Weise beherrschten) Dialekt agieren zu lassen, also Steven Klose aka Gefängnisdirektor Frank in breitestem Sächsisch, Tobias Bader aka seinen Adjutanten Frosch allerdings in Berlinerisch (darf die Hierarchisierung als weitere Spitze gewertet werden?), während einem die gestapo-artige Uniform Franks in seinem ersten Einsatz als Festnehmer des falschen Eisenstein das Lachen im Gesicht gefrieren läßt. So gerät Oldags Inszenierung ähnlich doppelbödig wie das Geschehen generell und paßt demzufolge prima zum Stück, wobei man sich trotz der verlängerten Spielzeit zu keiner Sekunde langweilt. Freilich wäre das alles nichts wert, würde die musikalische Leistung nicht stimmen. Unter den Sängern gibt es dabei keinen, der sich entscheidend aus dem Ensemble heraushebt, aber auch keinen, der durchs Raster fällt - alle machen ihre Sache gut bis sehr gut, und einige agieren eben nur durch bestimmte außermusikalische Merkmale auffälliger als andere. Im Orchestergraben stehen allerdings zwei Studenten am Dirigentenpult, und die offenbaren doch noch etwas Übungsbedarf. Während David Niemann gleich in der Ouvertüre die Musiker in den schnellen Passagen zu enteilen drohen (an drei der fünf Abende steht Dirigierprofessor Ulrich Windfuhr am Pult, und der hat offenbar flotte Tempi gefordert) und er nur mühevoll das Geschehen wieder in den Griff bekommt, aber später merklich sicherer wird, bekommt Ruth Reinhardt im zweiten und dritten Akt an etlichen Stellen keine richtige Feinabstimmung mit den Sängern zustande; gerade in verlangsamten Phrasenenden offenbaren sich doch teils beträchtliche Meinungsunterschiede zwischen ihr, dem Orchester und den Sängern, die sich zwar nicht entscheidend auf das sowieso kunterbunte Treiben auswirken, aber im Falle einer konzertanten Aufführung böse Folgen gehabt hätten. Hier hätte also noch deutliches Steigerungspotential bestanden. Im vorliegenden Kontext stört sich das Publikum daran kaum, es wird auch bestens unterhalten und spendet zum Schluß reichlich Applaus - ein Szenario, wie es kaum besser zu Oldags Idee, die sich auch mit Neil Postmans Buchtitel "Wir amüsieren uns zu Tode" umschreiben ließe, hätte passen können. So schließen sich Kreise ...



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