www.Crossover-agm.de
Schicksalslied   16.05.2012   Gera, Theater
von rls

Das Schicksal schwebte in unterschiedlicher Form über den beiden Komponisten dieses Konzertprogramms, es schwebt allerdings auch in gewisser bedrohlicher Weise über der Zukunft von Theater&Philharmonie Thüringen, dem einzigen Fünfspartentheater des Freistaats, das ab 2013 trotz erhöhter Finanzzusagen aufgrund der Entwicklung auf der Kostenseite wieder einmal dem Schicksal in den Rachen greifen muß, um in der bisherigen Form zu überleben. So verliest einer der Holzbläser des Philharmonischen Orchesters Altenburg-Gera nach dem Ende des Konzertes ein Statement zur aktuellen Lage und vermeldet einen Teilerfolg, nämlich ebenjenen erwähnten: Es gibt mehr Geld ab 2013 für das Theater - aber eigentlich immer noch nicht genügend ...
Das von Johannes Brahms vertonte Schicksal indes ist etwas anders gelagert - es stammt aus Hölderlins "Hyperion", und sowohl der Dichter als auch der Titelheld wurden vom Schicksal bekanntlich auch nicht gerade gestreichelt. So ist es nicht verwunderlich, daß der kühle Norddeutsche Brahms hier keine funkensprühende Musik darunterlegte. Dirigent Martin Fischer-Dieskau, Sohn des großen Sängers Dietrich Fischer-Dieskau, von dem es eine Brahms-Biographie mit Fokus auf dem Vokalschaffen gibt, dessen Familie man daher eine gewisse besondere Vertrautheit mit diesem Teil des Werkes unterstellen darf und bei dem das Schicksal zwei Tage später in Gestalt des grimmen Schnitters an die Tür klopft, scheint die Sprödigkeit mit seinem äußerst statischen, bisweilen auch fast roboterhaft wirkenden Dirigat optisch noch untermauern zu wollen. Die Eröffnung nimmt er sehr bedächtig, muß noch einige Untightheiten beseitigen, bekommt aber einen recht intensiven Ausdruck hin. Freilich wechseln sich in der Folge Licht und Schatten munter ab: Die Frauenstimmen des Konglomerats aus Philharmonischem Chor und Opernchor finden sich nicht mit den Flöten, während das Blech im Übergang zu Teil 2 förmlich zaubert. Immerhin gelingt es dem Dirigenten, Chor und Orchester so gut auszubalancieren, daß erstgenannter auch in den powervollen Passagen des dritten Teils nicht im klanglichen Nirwana verschwindet und man sogar gewisse Textteile verstehen kann, ohne daß man im Programmheft mitliest - das ist heutzutage ja keineswegs als Selbstverständlichkeit zu werten, obwohl es eigentlich eine sein sollte. In den lauteren Passagen wirken die Chortenöre bisweilen ein wenig angestrengt, und von den Bässen kommt wenig Tiefenpower, aber dennoch gelingt ein erstaunlich homogener Chorklang. Auch der Dirigent gewinnt mehr Selbstsicherheit, wenn man sich beispielsweise den gut ausgefeilten Dramatikübergang in den dritten Teil anhört. Freilich bleibt immer noch vieles Stückwerk, fehlt bisweilen die große Linie - aber die Stücke selber gelingen immer besser, etwa die kurzen sägenden Orchesterausbrüche oder die brillant gestaltete Unsicherheit in der letzten Chorzeile "ins Ungewisse hinab". Daß Brahms hier noch ein langes komisches Happy End anhängt, wie man es eher in einer neuzeitlichen Seifenoper erwarten würde, dafür können alle an diesem Abend Beteiligten natürlich nichts, und sie gestalten den ausgewalzten Schlußteil daher so süßlich, aber auch so schön wie möglich. Nur der Schlußeinsatz der Trompete läßt, geplant oder nicht, eine gewisse Quälerei erahnen, die Spannung steht trotzdem, und das Publikum darf nach herzlichem, aber eher kurzem und leicht verwirrt anmutendem Applaus erstaunlich früh in die Pause eilen.
Nach derselben steht die 4. Sinfonie von Anton Bruckner auf dem Programm, und zwar in der von Robert Haas herausgegebenen sogenannten Originalfassung, die freilich nicht mit der Urfassung von 1874 zu verwechseln ist (die Editionsgeschichte dieser Sinfonie ist ein Kapitel für sich - es hole sich Spezialliteratur, wer sich en detail dafür interessiert). Die Sinfonie trägt als einzige Bruckners einen Beinamen, nämlich "Romantische", und der Besucher wartet mit süß-saurer Miene, aber gespannt, wie Fischer-Dieskaus statisch-roboterhafte Gestaltung zu diesem Werk passen soll. Erstaunlicherweise arbeitet der Dirigent hier aber deutlich dynamischer, wenngleich nicht durchgehend - hier und da lahmt das Pferd am locker gelassenen Zügel dann doch etwas zu stark. Interessanterweise setzt Fischer-Dieskau die Dynamikgrenzen relativ weit außen, wobei ihm freilich auch der akustisch übersichtliche Saal entgegenkommt. So gedeiht gleich zu Beginn des ersten Satzes ein guter Hornruf auf einem noch etwas zu trockenen Bodengrund, während das erste Tutti stark hervortritt und das zweite noch stärker. Auch außerhalb dieser Passagen gibt das Blech oft viel, ohne aber zu nerven, während das Flötensolo ein paar hübsche ätherische Wirkungen erzielt, allerdings noch Reserven in puncto Fragilität erkennen läßt, die auch später nicht mehr angetastet werden sollen. Was Fischer-Dieskau kann, zeigt er beispielsweise im prima geformten Exzelsior aus dem Flötensolo ins nächste Tutti, dem schöne musikalische Landschaftsmalerei folgt. Die erwähnten gedehnten Dynamikgrenzen führen gar zu netten Paukenschlageffekten, und auch einige quer durch die Bläser verteilte Holperer verhindern nicht, daß das Satzfinale wie aus Stein gemeißelt vor dem Hörer erscheint.
Das Andante eröffnet Fischer-Dieskau recht ätherisch und leicht angedüstert, aber trotz gelegentlicher finsterer Stillstandspassagen bleibt eine dunkelromantische Durchleuchtung omnipräsent, selbst der Trauermarsch ist für einen solchen eigentlich einen Tick zu flott. Ob das nun für die Nervosität im Orchester sorgt, deren Resultat eine versaubeutelte große Bläserszene ist (trockene Flöten, untightes Blech), muß offenbleiben, aber mit einer geschickten Melange aus Dahinschleppen und beherztem Drängen wetzen die Musiker diese Scharte im nächsten Ausbruch schon wieder aus, und man registriert mit Behaglichkeit auch die Ideenquelle für den Paukensololauf in Mahlers 1. Sinfonie, 3. Satz - den nimmt Bruckner hier nämlich schon mal vorweg ...
Das Scherzo spielt das Orchester recht scharf und mit hörbarem Spaß an der Sache, und Fischer-Dieskau betont etliche der Breaks, schafft allerdings trotzdem oder auch gerade deshalb ein gekonntes Dynamikmanagement auf engem Raum, wenngleich es im Blech immer mal wieder holpert. Das Leierkastentrio nimmt der Dirigent sehr gemütlich, einen wirksamen Kontrast nach dem recht wilden Triofinale setzend, wobei er die Wildheit in der Triowiederholung allgemein einen Tick herunterschraubt.
Daran dürfte es freilich nicht liegen, daß der eröffnende Orgelpunkt des letzten Satzes eher unentschlossen wirkt - eine Erscheinung, die vom monumentalen Tutti freilich schnell weggewischt wird. Plötzlich bricht Bewegungsfreude bei allen Beteiligten aus, nämlich im groovigen Folgepart, und Fischer-Dieskau darf wieder mal sein Händchen für Detailgestaltungen unter Beweis stellen, vor allem wenn Ausbrüche aus dem Nichts kommen und wieder in selbiges münden. Freilich: Der große rote Faden in der Gestaltung fehlt, das Anfangstutti markiert, wie man am Schluß feststellt, schon den Dynamikgipfel, und an die plötzlichen Orchesterausbrüche beginnt man sich als Hörer erstaunlich schnell zu gewöhnen, sie als nichts Besonderes mehr auffassend. Die prima gelungene Tempoverschleppung in Richtung des Schlußteils stellt allen Beteiligten aber nochmal ein gutes Zeugnis aus, und obwohl der Schlußton einfach unprätentiös wegbricht, so erschallen trotzdem sofort einige Bravi, und das zufriedene Publikum bedankt sich mit reichlich Applaus.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver