www.Crossover-agm.de
In terra pax   15.04.2012   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Für seine jährlich zwei Programme sucht sich das Landesjugendorchester Sachsen bisweilen künstlerische Partner, so auch im 42. Projekt "In terra pax": Man widmet sich der Chorsinfonik und kooperiert daher mit dem Universitätschor Dresden und dem Chor der Musikhochschule Dresden, also zwei Ensembles, die wie das Landesjugendorchester selbst auch ständig neu zusammengewürfelt werden und eine permanente Fluktuation als Chance begreifen müssen. Vor diesem Hintergrund braucht es gar nicht so lange Zeit im eröffnenden Kyrie aus Mozarts Großer Credomesse KV 257, um die sprichwörtlichen Bauklötze zu staunen: Der aus den beiden zusammengewürfelten Chören nochmals zusammengewürfelte Chor klingt kaum weniger homogen als einer, der jahrelang in stabiler Besetzung singt, und vollbringt an diesem Abend, das sei vorweggenommen, eine Großtat nach der anderen. Das Orchester dagegen braucht in diesem Kyrie hörbar etwas Zeit, um sich zu finden, aber der Prozeß kann bewältigt werden, so daß Dirigent Jörg-Peter Weigle ab dem Gloria bedenkenlos mehr Dynamik fordern kann und diese von den jugendlichen Instrumentalisten auch geliefert bekommt. Noch nicht ganz gelöst ist zu diesem Zeitpunkt die Balance zwischen den vier Gesangssolisten: Altistin Henriette Gödde hat zwar gegen nur einen von den beiden Herren an ihrer Seite Chancen, sich hörbar zu machen, aber gegen beide geht sie baden, und auch Sopranistin Ah Young Yoon strengt den Hörer anfangs ein wenig an, bevor sie aber recht schnell bemerkt, wann sie sich etwas zurückhalten sollte. So richtig gut wird die Quartettbalance dann allerdings erst ab dem Credo, in dem Mozart auch den Instrumentalisten mancherlei plastische Gestaltungsmöglichkeit bietet. Im Stimmungsbruch bei "et incarnatus est" gelingt Weigle und dem Orchester das noch nicht so richtig, während die eingeschlagenen Nägel bei "crucifixus" überdeutlich von der Bühne geflogen kommen, was wiederum keine Entsprechung in der tatsächlichen Kreuzigungsszene findet, die wiederum in einen geschärften Schlußteil mündet. Das kurze Sanctus wirkt durch Weigles generell recht flotte Tempowahl noch knapper, und der Dirigent bekommt das Ruder immer dann, wenn es ihm zu entgleiten droht, wieder in den Griff. Probleme bereitet das Benedictus, in dem alle vier Solisten etwas zu hölzern agieren, obwohl speziell die Sopranistin auch einige wunderbar berückende Momente hinbekommt, nachdem Weigle ihr durch die Zurücknahme des bisweilen zu viel gebenden Orchesters diese Möglichkeit einräumt. Kurioserweise erklingen nach dem Abwinken dieses Satzes weiterhin Töne aus Richtung Bühne. Des Rätsels Lösung: Irgendwo dahinter spielen sich die Instrumentalisten, die erst beim zweiten Werk des Abends eingreifen, warm, und die Schallschutzkette ist an irgendeiner Stelle unterbrochen. Weigle eilt also nach hinten, sorgt für Ruhe, kehrt auf das Pult zurück und läßt das Agnus Dei recht beschaulich beginnen. Der Chor singt auch im Piano klasse, die beim ersten Mal noch eher subtilen "peccata mundi" erfahren bei jeder Wiederholung eine plastischere Gestaltung, und der Schluß kommt so unprätentiös daher, daß sich keiner traut zu klatschen, weil jeder denkt, es müsse noch etwas kommen.
Das genannte zweite Werk gibt dem Gesamtprogramm den Titel: "In Terra Pax" ist ein Oratorium des Schweizer Komponisten Frank Martin, das der Schweizer Rundfunk im Frühsommer bestellt hatte, um es am Tag des Waffenstillstandes im Zweiten Weltkrieg senden zu können. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte der Gröfaz doch noch eine Wunderwaffe in die Hände bekommen (und in der Entwicklung einer Atomwaffe lagen die deutschen Spezialisten ja durchaus so gut im Rennen, daß die Amerikaner nach Kriegsende alles daran setzten, möglichst vieler von ihnen habhaft zu werden, um sie in ihr eigenes Atomprogramm zu integrieren), die zu einer Kriegswende hätte führen können - aber es kam, wie wir wissen, anders, und so konnte das Werk wie geplant im Mai 1945 über den Äther gehen. Martin hat für sein dreiviertelstündiges Werk neben - logischerweise - der Offenbarung des Johannes auch noch andere Bücher der Bibel herangezogen und daraus ein elfsätziges Werk geschmiedet, das freilich alles andere als eine Siegessinfonie geworden ist, sondern zwischen einer Totenklage und der Freude über den wiederhergestellten Frieden alteriert und für sein Entstehungsjahr 1944 erstaunlich konventionell daherkommt. Das schließt natürlich die damals schon recht bekannten Möglichkeiten musikalischen Katastrophenlärms mit ein, wovon Weigle und seine jugendlichen Musiker gleich im eröffnenden Con Moto nach dem äußerst plastischen Erdbeben eindrucksvoll Zeugnis ablegen. Zuvor hat allerdings Bariton Georg Streuber eine sehr ausdrucksstarke Totenklage abgehalten, deren Finsternisgrad immer mehr zunimmt und sich schließlich im genannten Erdbeben entlädt. Diesem Lärm stellt Martin immer wieder berückende Momente entgegen, und wie der Chor seine diesbezügliche Aufgabe im folgenden Andante quasi Largo meistert, das nötigt höchsten Respekt ab. Bassist Georg Finger hat im Allegro furioso trotz erstaunlich hoch gelegener Linie wenig akustische Chancen gegen das titelgemäß furiose Orchester, während Tenor David Sitka im Molto Moderato leider in der falschen Vorstellung zu singen scheint - italienische Oper, in der man auf dem akustischen Weg zum Publikum zudem noch gegen das im Orchestergraben lärmende Instrumentalistenensemble kämpfen muß, steht an diesem Abend eigentlich nicht auf dem Programm. Der wunderbar spröde Alt Julia Böhmes über den fahlen Streichern macht diesen Ausfall aber locker wieder wett, und die Nummer endet, nachdem der Trauermarsch noch etwas Süßliches in sich getragen hatte, im völligen Teer, wandelt sich also sozusagen von Type O Negative in Funeral Doom. Damit ist im folgenden Adagio schnell wieder Schluß: Einem übermotivierten Wächterruf des Tenors folgt ein hervorragender Choral, bevor Sopranistin Elisabeth Göckeritz im Andante ihre eher gedeckte Stimme ins Gefecht führt. Allerdings hat selbst sie in den Quintettpassagen des Con Moto gegen den Tenor akustisch kaum Chancen, und ihre drei KollegInnen hört man, von wenigen Momenten Georg Fingers im Baß abgesehen, gleich gar nicht erst. Dafür überzeugt das lange Lavieren in diesem Satz ebenso wie die zurückgenommene Schlußwirkung - an dieser Stelle ermöglicht Martin das Ende des Werkes, wenn nur eine begrenztere Spielzeit zur Verfügung steht, aber Weigle und seine Jugendlichen spielen es in voller Länge. Die sehr entrückten Streicher unter dem Alt-Solo stellen dann den besten Moment des sich wie Kaugummi ziehenden Largo dar, bevor im Andante Molto Tranquillo ein Wunder geschieht: Tenor David Sitka kommt urplötzlich in der richtigen Vorstellung an, singt sein Solo leise und nuancenreich und punktet besonders mit der Gestaltung der Zeile "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun". Warum nicht gleich so? Egal: Im Adagio darf der Chor nochmal mit einem bezaubernden Credo auftrumpfen, und im abschließenden Allegro Moderato bündelt Martin nochmal viele der bisherigen Elemente. Georg Streuber als Prediger beginnt dabei fast etwas zu scharf, Georg Finger kann beeindruckende Tiefen ins Gefecht werfen, David Sitka erleidet einen Rückfall, das Glockenspiel klingt fast ein wenig esoterisch, die Feinabstimmung im fugierten "Heilig" ist nur als exzellent zu bezeichnen, und obwohl der Schluß allenfalls ein Piano, aber kein Pianissimo darstellt, steht die Spannung in enormer Stärke und Dauer, und ein intensiver und ausdauernder Applaus des gut besuchten Saales, garniert mit etlichen Bravi, belohnt alle Beteiligten für eine starke Aufführung.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver