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Telemann   18.03.2012   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Unter den drei großen mitteldeutschen Barockkomponisten ist Georg Philipp Telemann nach wie vor derjenige, der am wenigsten im Fokus der Öffentlichkeit steht, und das, obwohl sein kompositorisches Schaffen rein quantitativ seine gewiß nicht faulen Kollegen Bach und Händel deutlich übertraf. Die Telemann-Festtage in Magdeburg, 1962 erstmals durchgeführt, bemühen sich, das Schaffen des großen Sohnes ihrer Stadt zumindest ausschnittweise ins gebührende Licht zu rücken, und bei der 2012er Ausgabe des Festivals spielt auch das MDR Sinfonieorchester ein Konzert, das einen Tag später im Leipziger Gewandhaus wiederholt wird.
Am Pult steht Reinhard Goebel, bekanntermaßen ein Alte-Musik-Spezialist, aber auch ein Mann mit einer klaren Vorstellung in puncto Klang und Herangehensweise, von der er nur ungern abrückt. Seine eher forsche Herangehensweise hat, so zeigt sich an diesem Abend, Vor- wie Nachteile. Zum einen verhindert sie schon im eröffnenden Concerto C-Dur für drei Trompeten, Pauken, zwei Oboen, Streicher und Basso continuo, daß sich der träge Schleier eines romantisch geprägten Barockverständnisses über das Material legt, zum anderen aber ist das Gefühl für Klangbalance in der Entfernung seine Sache offensichtlich nicht. Klar, er muß von seiner Position aus urteilen, und das Pult steht nun mal direkt vor den beiden Oboen (die Trompeter hingegen sitzen hinten auf ihren üblichen Plätzen) - trotzdem sehen die Oboen im Gesamtklang, der hinten auf den Rängen ankommt, kaum einen Stich. Auch die kurze Grave-Überleitung hin zum fugierten Allegro fällt etwas holprig aus, während Goebel und das Orchester in den beiden Schlußsätzen beweisen, was dabei herauskommen kann, wenn man wirklich mal gemeinsam Musik macht: Das Largo schreitet gravitätisch daher, und über allem thront hier eine flotte, aber trotzdem entspannte Oboe, und das abschließende Vivace überzeugt zumindest in seiner Summe aus Einzelleistungen, mit Bombastkitt zusammengehalten (die sich förmlich von unten heranschleichenden Trompeten etwa sind ganz großes Kino).
Das Balanceproblem bleibt auch im Concerto D-Dur für zwei Traversflöten, Violine, Violoncello, Streicher und Basso Continuo erhalten. Die Begleiterin des Rezensenten wagt im eröffnenden Vivace mal das Experiment, die Augen zu schließen und die Flöten herauszuhören zu versuchen - eine partiell immens schwere Aufgabe, wenn man die Musiker eben nicht spielen sieht. Zwar bessert sich die Situation im Laufe des Konzertes, aber ideal ist was anderes. Natürlich wimmelt es auch hier von brillanten Einfällen Telemanns, von den Musikern brillant umgesetzt - man nehme nur mal das aberwitzige Soloduell am Ende des Vivace-Satzes, wo sich Susanne Schneider und Christian Sprenger an den Flöten, Violinistin Waltraut Wächter und Cellist Michael Pfaender über einem Kontrabaßteppich förmlich mit Themenblöcken bewerfen. Die Intensität der Siciliana beweist, daß Goebel auch anders als forsch kann, nur der Schluß wirft dann doch wieder Fragen auf: Er läßt den letzten Ton nicht stehen, sondern winkt sofort ab und blättert quasi in der gleichen Bewegung um, obwohl das Allegro keineswegs attacca anhängt - ein häufig zu beobachtendes Phänomen an diesem Abend und leider nicht selten eine verpaßte Chance, gewisse Stimmungen noch etwas nachklingen zu lassen oder wenigstens erstmal zur vollen Wirkung gelangen zu lassen. Wenigstens gibt es auch im Allegro ein paar dieser erwähnten Geniestreiche, z.B. diesen: Pfaender soliert, das Orchester legt einige Einzelschläge drunter, und die Flöten füllen die Pausen bis zum Wiedereinsetzen Pfaenders aus. In der Gavotte revanchiert sich Pfaender, indem er unter die Flötensoli eine Art Frühform des Offbeats legt, und es gibt noch weitere klasse Tetraloge. Für die Überschrift "Presto" wählt Goebel allerdings ein relativ gemächliches Tempo, und das Ende hat Telemann so unprätentiös geschrieben, daß keine Spannung steht, aber auch keiner zu klatschen beginnt, weil jeder erwartet, daß noch etwas kommen müßte. Die Verwirrung des Publikums schlägt sich dann auch in einem für das so gut wie volle Haus eher mäßig intensiven Applaus nieder.
Im zweiten Teil des Konzertes erklingt "Der Tag des Gerichts", ein Quasi-Oratorium, offiziell als Singgedicht bezeichnet und ein Alterswerk des über 80jährigen Komponisten. Den Text schrieb der ein halbes Jahrhundert jüngere Ex-Telemann-Schüler Christian Wilhelm Alers, und der hat dem Komponisten in puncto Textaufteilung doch die eine oder andere schwierig zu umschiffende Klippe untergejubelt - eine Aufgabe, der sich der Komponist in wechselnder Qualität entledigte. Daß er den der von Goebel sehr flott, aber mit durchaus akzentuierten Breaks genommenen Einleitung folgenden Eröffnungschor der Gläubigen, der immerhin die Ankunft des Herrn samt Tausender Heiliger zwecks Gerichtsabhaltung zu verkünden hat, derart blutarm vertont hat, daß schon ein geringes Ungleichgewicht der Klangbalance den Chor endgültig ins Abseits stellt, mutet jedenfalls eher komisch an. Zumindest in puncto Dramatik steigert sich das musikalische Geschehen aber deutlich, und das gut organisierte Orchester sorgt in der Folge durchaus für etliche Höhepunkte, etwa wenn Mezzosopranistin Elisabeth von Magnus in Arie 8 in der Rolle der Vernunft eigentlich mächtige Zerstörungswellen anzukündigen hat, aber es gesanglich bei einem lauen Lüftchen beläßt, während wenigstens das Orchester angemessenes akustisches Schlechtwetter erzeugt. Und damit wären wir beim Hauptproblem dieser Aufführung: den vier Gesangssolisten. Kurioserweise klingen alle vier nämlich so gedämpft, als ob sie durch eine Schaumstoffwand zu singen hätten - der Rezensent hatte zunächst vermutet, seine Ohren seien vielleicht noch auf den Lärmpegel der kurz zuvor zu Ende gegangenen Buchmesse geeicht gewesen, aber dann hätte sich dieses Phänomen ja nicht auf die Solosänger beschränken dürfen. Nun ist das für sich betrachtet noch kein großes Problem - aber es liegen noch weitere Hasen im Pfeffer. Elisabeth von Magnus singt solide, ohne irgendwelche Bäume auszureißen, Tenor Virgil Hartinger bekommt im Rezitativ 5 in der Rolle des Spötters zumindest ein paar zarte Höhen zustande, aber zu viel mehr reicht es auch nicht. Einen rabenschwarzen Tag erwischt Stephan Genz - erstens liegt die Rolle offensichtlich ein gutes Stück zu tief für seine Tessitur, so daß ihm unten völlig die Power fehlt, zweitens aber muß er sich auch in den höheren Passagen so sehr anstrengen, daß Glanz ein völliges Fremdwort darstellt. Eigentlich kennt man ihn ja als Könner, aber an diesem Abend geht bei ihm irgendwie alles schief. So ist Sopranistin Christine Wolff noch die beste der Sängerinnen, selbst wenn auch sie nach ihrem späten Einsatz, den sie zunächst mit viel Gestaltungswillen bestreitet, die Gestaltung aber nicht übertreibt, etwas abbaut und sich nur noch solide durch die anstehenden Aufgaben hindurchlaviert. Ergo bleibt es dem von Howard Arman einmal mehr glänzend präparierten MDR Rundfunkchor vorbehalten, die Kastanien aus dem Feuer zu holen, sobald ihn Telemann und Goebel denn lassen. In Chor 10 geht er noch gegen das Orchester baden, aber ab Chor 11 bricht er sich machtvoll Bahn, auch wenn das Orchester wildes Gesäge darunterzulegen hat. Die Sänger leisten exzellente Feinarbeit, etwa im Chor 22, dem Chor der Laster, wo man das hier geplante Chaos erstmal so exakt hinbekommen muß, oder bei den teils solistischen Aufgaben, die Chor 25 bereithält. In Chor 32 täuscht Telemann mit Bombastchören schon eine Schlußwirkung an, und Goebel, Orchester und Chor arbeiten diese Wirkung auch sehr intensiv heraus - aber es folgen noch zwei Nummern, und in Chor 34 ist es wieder dem Chor vorbehalten, mit der Refrainzeile "Die Rechte des Herrn ist erhöhet! Die Rechte des Herrn behält den Sieg!" den Sieg zu behalten, womit er zwar nicht alle Problemfälle, die man unterwegs so zu diagnostizieren konnte, vergessen machen kann, aber ein weiteres Mal seine Ausnahmestellung unter Beweis stellt und völlig zu Recht im Schlußapplaus dann auch den mit Abstand lautesten Beifall einheimsen darf.



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