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5. Sinfoniekonzert   18.01.2012   Chemnitz, Stadthalle
von rls

Die Vergabe von Kompositionsaufträgen mit der Vorgabe, sich an bestimmten Aspekten bereits bestehender Kompositionen zu orientieren, ist eine durchaus nicht seltene Vorgehensweise. Zwar scheiterte das Vorhaben, die verschollenen Bachschen Festmusiken zu Leipziger Universitätsfeiern im Vorfeld der 2009er 600-Jahr-Feier der Alma mater Lipsienses von neuzeitlichen Komponisten anhand der fast komplett erhalten gebliebenen Texte nachschaffen zu lassen, am unzeitigen Tod des Universitätsmusikdirektors Wolfgang Unger, aber das Gewandhaus zu Leipzig beispielsweise gestaltete seinen 2011er Beethoven-Sinfoniezyklus so, daß fünf Komponisten den Auftrag erhielten, jeweils ein Stück mit Bezug auf eine Beethoven-Sinfonie zu schreiben, das dann mit dieser und (bis auf die Neunte) einer weiteren Beethoven-Sinfonie in einem Konzertprogramm erklang. Das Orpheus Chamber Orchestra wiederum beauftragte sechs Komponisten, Werke zu schreiben, die in der Instrumentation jeweils einem der sechs Brandenburgischen Konzerte aus Bachs Feder glichen. Der 1967 geborene Christopher Theofanides war einer dieses Sextetts, er hatte das 3. Konzert zugeteilt bekommen, und sein daraus erwachsenes Stück "Muse" eröffnet das 5. Sinfoniekonzert der Saison 2011/2012 der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz. Laut Satzbezeichnung ist der erste Satz "brilliant, fiery" gedacht, und das Orchester nimmt ihn auch sehr flott, fließend, bisweilen fast cineastische Landschaften malend. Was Bach freilich noch nicht kannte, ist die bisweilen asiatisch anmutende Harmonik, die aber keinen Fremdkörper in Theofanides' Klangkonzept darstellt, möglicherweise allerdings Ursache für die Wahl des Dirigenten oder aber des Stücks (je nachdem, was vorher da war) war: Am Pult steht der offenbar koreanischstämmige Amerikaner Shinik Hahm, und der hat natürlich einen gewissen Bezug zu solchen Klängen. Satz 1 wird mit vier markanten Krachern im richtigen Moment, bevor man sich zu langweilen beginnt, abgewürgt, und es beginnt Satz 2, plangemäß "with a light touch, ornate". Solovioline und Cembalo werfen sich zunächst Vogelgezwitscherthemen zu, die asiatische Melodik bzw. Harmonik ist auch wieder da, und die Bratschen beginnen sich irgendwann über dem Gezwitscher zu duellieren - Theofanides nutzt den Umstand, daß Bach die Struktur der Streicher, neben dem Cembalo die einzigen besetzten Instrumente, selber atomisiert hat, für solche internen Duelle aus. Dann breitet er weite Flächen aus, die schrittweise ausfasern und in eine Art Minimal Music, allerdings der hochspannenden Sorte, münden, nicht selten kurz vorm absoluten Stillstand befindlich. Die Spannung entlädt sich im "willful, deliberate" überschriebenen dritten Satz: Theofanides kennt offensichtlich das in den USA zum allgemeinen Kulturgut gehörende Trans-Siberian Orchestra, und so klingt die Einleitung wie "Bach auf TSO", wozu mancherlei Gesäge aller Fraktionen tritt. Später kommt noch das Prinzip "Bach auf Western" hinzu, das B-A-C-H-Thema fehlt auch nicht, und kurze Zeit später ist der eklektizistische Spaß zu Ende, der vom Publikum mit für ein unvertrautes Werk doch recht achtbarem Applaus quittiert wird.
Danach macht sich eine größere Umbaupause notwendig, die das Publikum zwangsweise erträgt und den drei Bühnenarbeitern am Ende gut gelaunt applaudiert. Das Cembalo bleibt zwar auf der Bühne, aber in der Mitte steht für Mozarts Klavierkonzert C-Dur KV 467 jetzt der große schwarze Flügel, an dem Hye Jin Kim Platz nimmt. Hahm läßt die Orchestereinleitung nur mit mäßiger Energie spielen, so daß die markante "Heidi"-Tonfolge aus dem Blech ziemlich hervorsticht. Die junge Koreanerin wiederum spielt anfangs recht trocken und braucht einige Zeit, bis sie richtig "warm" ist und sich ihrer Aufgabe mit großer Lockerheit entledigt. Der Dirigent arbeitet sichtbar sehr intensiv mit ihr; oftmals steht er mit 150-Grad-Körperdrehung, die linke Hand am Geländer des Pults, vor der Pianistin, und im letzten Klavierpart vor der Kadenz des ersten Satzes vollbringt er sogar mit der rechten Hand rotierende Bewegungen, um die Solistin gewissermaßen "anzutreiben". Das fruchtet - das Klavierspiel wird immer besser, und nach dem Ende des ersten Satzes flüstert es von rechts "Phantastisch!" aus der Reihe hinter dem Rezensenten. Im Andante nimmt Hahn das Tempo sehr weit raus, sowohl für das Orchester als auch für das Klavier, so daß ein kurioser, aber wirkungsvoller Mix aus Spannung und Entspannung entsteht, den nicht mal der winzige Problemfall, daß in den Dialogpassagen zwischen Klavier und Fagott ersteres etwas zu sehr dominiert, trüben kann. Freilich nimmt die Entspannung für mindestens einen Besucher solche Ausmaße an, daß aus der Reihe hinter dem Rezensenten, diesmal von links, dezente Schnarchlaute ertönen. Im Laufe des dritten Satzes erwacht der Schlummernde aber offensichtlich wieder, obwohl Hahm auch hier das Orchester recht träge beginnen läßt und erst das Klavier mehr Fluß reinbringt. Die Klangtransparenz ist exzellent, die diversen Dialoge kommen auf den Punkt, und der Schlußwitz schafft es gerade noch so auf die richtige Seite, also nicht ins Überhastete. Laute Bravi belohnen die Beteiligten, und die Pianistin läßt sich auch noch zu einer Zugabe, nämlich dem 3. Satz aus Haydns Sonate HoB. 50 C-Dur, einem flotten Stück mit brillant gespielten "Verhaspelungen", überreden.
Hatte man anhand des Mozart-Stückes (und auch dem Ende des zweiten Theofanides-Satzes!) schon hier und da vermutet, Hahm besitze ein besonders gutes Händchen für die Gestaltung ruhiger Passagen, so verdichtet sich dieser Verdacht nach dem Hören der 1. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch noch. In die lavierenden Strukturen von deren 1. Satz muß man nämlich erstmal Struktur reinbekommen, und das schafft der Dirigent auch, während die wenigen Ausbrüche zunächst eher undurchdringlich wirken und erst allmählich Strukturen erkennen lassen, die der mit viel Körpereinsatz dirigierende Hahm schrittweise herausarbeitet. Klingt das Blech anfangs noch etwas zu rauh, so ändert sich auch das mit zunehmender Spielzeit, und der plötzliche Posaunenakkord kurz vor Schluß wird so zum heimlichen Höhepunkt dieses ersten Satzes. Auch im zweiten zeigt Hahm wieder Qualitäten der besonderen Art: Das Speedchaos, das der noch nicht 20jährige Komponist hier anzettelt, bekommt bei Hahm eine überraschend kontrollierte Marschrichtung verpaßt, auch die Herunterschaltung in die russische Melancholie gelingt prächtig - ähnlich prächtig aber auch der ansatzlose Ausbruch, nach dessen Ende ein aberwitziges Faserfinale folgt, in dem Hahm auch tatsächlich den richtigen Faden findet. Seine Stärke allerdings spielt er besonders im Lento aus: Was da mit dem Solocello noch eher dunkelromantisch beginnt, nimmt bald eine kapitale Schwärze an und schleppt sich (geplant!) dahin, als sei der Stecker gezogen worden, und die Batterie würde leer. Die Solovioline macht noch kurz Hoffnung, aber die fürchterlich gequälte Solotrompete führt alles immer weiter in den Keller - ein Meisterstück der Gestaltung von Komponist wie Dirigent! Satz 4 startet attacca mit einem Trommelwirbel, aber auch hier bleibt die Schwere lange erhalten, ungewöhnlich lange für einen noch nicht 20jährigen in der Aufbruchstimmung der 20er Jahre in Sowjetrußland. Die Tempoverschärfung kommt spät, aber sie kommt, das Glockenspiel nimmt fast unwirkliche Züge an, aber die Spannung entlädt sich im blitzartigen Schluß gar nicht so richtig. Macht nichts: Hahm hat in vielen Passagen eine sehr geschickte Gestaltungshand bewiesen und sich den langen und ausdauernden Applaus redlich verdient, den er übrigens fast durchgängig nicht vorn auf dem Pult, sondern irgendwo inmitten des Orchesters entgegennimmt.



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