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Hochschulsinfonieorchester   04.11.2011   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Fürs nun schon zur Tradition gewordene Konzert zum Todestag Felix Mendelssohn Bartholdys zieht das Orchester der nach ihm benannten und von ihm gegründeten Hochschule erneut ins Gewandhaus um und setzt in ebenso traditioneller Weise ein Mendelssohn-Werk auf den Spielplan. Das ist diesmal die Konzert-Ouvertüre zum Märchen von der schönen Melusine, in der es um eine klassische Konstellation "Ritter liebt Frau, die sich aber als Meerjungfrau herausstellt" geht. Naturgemäß hat das Holzintro hier also schön flüssig zu plätschern, und das tut es an diesem Freitagabend im anständig besetzten Gewandhaus auch. Dirigierprofessor Ulrich Windfuhr und seine Studenten meistern auch die folgende Dramatisierung gekonnt, nur die eher auf den Ritter beziehbaren Parts lassen den Wunsch einer gewissen Schärfung offen. Diese Kombination bleibt die gesamten zwölf Minuten Spielzeit hindurch erhalten, die Umgarnung wird recht plastisch geformt, der Unterhaltungswert nimmt schon recht hohe Grade an, und nur der Schluß geht leicht daneben, was das schrittweise "Ausfaden", die Tightness der Zupfer und einen komischen Nachklang betrifft.
Der Rest des Programms hat mit Mendelssohn nur noch peripher zu tun, aber das macht nichts. Igor Strawinsky freilich greift in seinem Violinkonzert in D-Dur auf barocke Vorbilder zurück, zumindest was die Satzbezeichnungen angeht, und damit könnte man zumindest eine Verbindung zum Bach-Wiederentdecker Mendelssohn herstellen, auch wenn diese nicht stärker belastbar ist. Der erste Satz jedenfalls heißt Toccata und gibt schon die Marschrichtung vor: Die Solovioline hat meist nur mit Teilen des Orchesters zu arbeiten, während sie gegenüber anderen Teilen völlig kratzbürstig agiert. Dieser Aufgabe entledigt sich die in ein taubenblaues Kleid gehüllte Elfa Rún Kristinsdóttir jedenfalls tadellos, wie man in der Toccata schnell bemerkt, wenn sie in einen Dialog mit den Celli tritt, während das Blech einen Zirkusmarsch als Unterbau drunterlegt, den auch Schostakowitsch nicht wesentlich anders gestaltet hätte. Überhaupt ist das Orchester sehr bläserlastig besetzt, was dem Groove dieses Satzes auch gut tut - und die Studenten haben offensichtlich auch eine entsprechende Hörerfahrung populärmusikalischer Art, um das authentisch umzusetzen; die Breaks sitzen sicher, der Rhythmusteppich liegt faltenfrei. Das ändert sich in der Aria I, allerdings beabsichtigtermaßen: Anfangs gibt es keinen Groove, dann einen gestörten und erst dann einen richtigen, den ein finsteres Tutti abwürgt. Meisterlich schütteln die jungen Musiker (auch die Solistin, in Leipzig Studentin von Carolin Widmanns Solistenklasse, hat gerade erst ein Vierteljahrhundert an Lebensjahren hinter sich gebracht) die blitzartigen Spannungsaufbauten und -entladungen im Satzschluß aus dem Handgelenk. In der Aria II beweisen sie, daß sie aber natürlich auch mit klassisch geprägten Strukturen zurechtkommen: Es entspinnt sich ein Totengesang fast romantischer Prägung, der bis auf den kleinen Vorschlag der Solovioline eine fast traditionell zu nennende Einbindungsstrategie verfolgt. Das Meisterstück kommt auch hier am Satzende: Der seltsam beseelte Zwiegesang von Flöte und Solovioline über hohen Kontrabaßteppichen entfaltet seine volle Wirkung. Im Capriccio an letzter Satzposition freilich ist Schluß mit solchen Dingen - dafür gibt es andere, allerdings wohl ungeplante, etwa wenn sich Solovioline und Fagott in ihrem Duett förmlich auseinanderentwickeln. Im Gegensatz zur Toccata ist das Capriccio deutlich tempovariabler, die große Trommel erzeugt sogar noch einen folkigen Groove, und der Schlußwitz gelingt den Beteiligten in ansprechender Form. Der Applaus ist verdientermaßen laut, aber die solierende Isländerin läßt sich nicht zu einer Zugabe überreden.
Nach der Pause liegt Peter Tschaikowskis 4. Sinfonie auf den Pulten, eine Art inneres Formexperiment, das im Programmheft mit dem Slogan "Auf der Suche nach der Heiterkeit" umschrieben ist - das muß freilich immer im Tschaikowski-Kontext gesehen werden und in dem der russischen Erde, wo der Komponist wurzelt. Ob Windfuhr deswegen die eröffnende Blechfanfare so spielen läßt, als sei sie von Iwan Lokomofeilowitsch aus dem ganzen Block gefeilt worden? Egal, denn die Übergänge in die weicheren Parts gelingen tadellos, und die Ausbrüche sitzen auch, obwohl die vermittelte Power allenfalls ein mäßiges Level erreicht - das wäre im kleineren Hochschulsaal sicher drückender im Publikum angekommen. Macht aber nichts, denn der Hörer bekommt viel anderes Gutes vorgesetzt, etwa die wechselnden Holzsoli über einem ruhigen Streicherunterbau (da haben diverse Jazzer Jahrzehnte später manche strukturelle Idee übernommen ...) oder die perfekt aus dem Ärmel geschüttelte Beschleunigung in ein ruhiges Midtempo. Der Mittelteil wütet auf hohem Niveau, ist aber noch nichts gegen die niederschmetternde Wirkung, die Tschaikowski mit den Einzelakkorden am Schluß zu entfachen gedachte, und Windfuhr und seine Studenten lassen es am Keulenschwingen hier nicht fehlen. Die liebliche Oboe im Andantino verbindet dann alle Wunden wieder, die Atmosphäre wird trotzdem dunkler, was das Orchester zum Malen schöner Stimmungsbilder nutzt. Selbst die Ausbrüche bleiben entspannt, die Holzsolostruktur ist wieder da, und den Beteiligten gelingen etliche richtig betörende Momente. Das Scherzo zaubert ein Lächeln ins Gesicht des Besuchers: Das Orchester demonstriert, wie man mit den begrenzten Dynamikmöglichkeiten ausschließlich gezupfter Streicher trotzdem klasse Stufungen und reizende Duelle hinbekommt. Der Finalsatz wiederum gräbt wieder in der russischen Erde: Tschaikowski hat hier das Volkslied "Stand ein Birkenbaum am grünen Raine" verarbeitet, dessen deutscher Text von einem scheinbar nutzlosen Birkenbaum erzählt, der aber letztlich doch noch zu Musikinstrumenten verarbeitet wird: Drei Zweige werden zu Pfeifen, ein vierter verwandelt sich in eine Fiedel. Fette Tutti malen zunächst viel russischen Wald an die Gewandhauswand, die Mischung aus Frische und Schwermut gelingt prima, und wenn das Blech wieder das Baumthema donnert, antwortet der Orchesterrest mit Schlägen, die an Axthiebe erinnern - man müßte glatt mal nachschauen, ob der russische Originaltext der deutschen Übertragung entspricht oder nicht. An diesem Abend ist das freilich egal: Im ruhigen Teil bekommen die Studenten eine enorme Spannung hin, auch im Triumph liegt immer noch Tragik (die absteigende Tonfolge gibt wiederum das Vorbild für "These Boots Are Made For Walkin'" ab), und der Schluß ist diesmal nicht aus dem Ganzen gefeilt, sondern gemeißelt. Der Rezensent hat ja nun schon einige Konzerte des Hochschulsinfonieorchesters gesehen - aber dieser Tschaikowski setzt neue Maßstäbe, findet offenbar auch das sehr ausdauernd applaudierende Publikum.



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