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Hochschulsinfonieorchester   28.09.2011   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Richard Strauss rahmt dieses erste Konzert des Hochschulsinfonieorchesters im neuen Semester ein - jedenfalls theoretisch. Denn bevor die Studenten an diesem Abend "Don Juan" spielen, läßt Dirigent Ulrich Windfuhr für seinen im Publikum anwesenden und justament einen runden Geburtstag begehenden Kollegen Wolfgang Mäder einen "Happy Birthday"-Chor intonieren, und zwar in der Fassung Orchester plus Publikumsgesang in G-Dur. Das ergibt ein etwas schräges, aber trotzdem herzliches Ständchen, bevor man zum Ernst des Abends schreitet. Und da wird schnell klar, daß Windfuhr das wieder einmal umfangreich umbesetzte Orchester (das Schicksal jedes studentischen Klangkörpers) durchaus schon zu großer Tightness zusammengeschweißt hat. Auch in den schnellen Parts entsteht keine Unordnung, das schwelgende Tempo liegt weit unten, ohne zu schleppen, und auch der Dramatikfaktor sitzt. Das kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß es speziell in den ruhigen Passagen hier und da noch arg holpert, wofür freilich einige wirklich schöne Holzsoli entschädigen. Das Glockenspiel schneidet sich seinen Weg förmlich frei, auch das Blech macht seine Sache nicht schlecht, selbst wenn die Solotrompete auch mal hängt. Arbeitsbedarf zeigt sich vor allem rings um die Generalpausen, wo die Einsätze noch zu fächerförmig kommen, während die Bombastparts schön viel Druck machen und auch das Nichts am Ende nach holpriger Strecke so nihilistisch gelingt wie geplant.
Maurice Ravels Klavierkonzert G-Dur hält in den Außensätzen noch einige weitere Prüfsteine für die Studenten bereit, von denen sich einige als Stolpersteine entpuppen: Die Struktur ist recht zerklüftet, und vor allem im ersten Satz gelingt nicht jeder Einsatz. Aber das Grundprinzip wird deutlich erkennbar: Gershwin grüßt um die Ecke, wird aber von einem schon hier erstaunlich romantischen Klaviersatz konterkariert. Hwanhee Yoo sieht in Fortepassagen des Orchesters allerdings keinen Stich, spielt zwar flüssig, aber ohne größere Höhepunkte. Das ändert sich im zweiten Satz, wo die jetzt alleine agierende Soloklavierstimme ins Hochromantische abdriftet, aber linke und rechte Hand unterschiedliche Taktarten zu spielen haben, so daß sich minimale Abweichungen im Tempomanagement ergeben, die ein unruhiges Gefühl erzeugen müssen. Diese Aufgabe meistert der koreanische Pianist in erstklassiger Manier, und die große Linie in diesem Satz wird bis zu seinem Ende durchgezogen, woran sich später auch andere Instrumente wie die förmlich singenden Celli mit hörbarer Begeisterung beteiligen. Der Trommelwirbel am Beginn des dritten Satzes reißt den Hörer dann aus der beschaulichen Stimmung, und dieses relativ kurze Presto ist ähnlich strukturiert wie das eröffnende Allegramente, wobei sich Orchester und Pianist diesmal deutlich besser aufeinander eingespielt zeigen, wenngleich der Schlußeffekt irgendwie ein wenig verpufft.
Zu "Residua. Trauermusik für Violine und Orchester" des 22jährigen Philosophie- und Kompositionsstudenten Kai Johannes Polzhofer, die als Uraufführung nach der Pause erklingt, enthält sich der von Dehydratation, Definition und Delegation geplagte Rezensent jeglichen Kommentars und zitiert statt dessen Polzhofers Begleittext aus dem Programmheft (in Originalorthographie):
"'Residua, Trauermusik für Violine und Orchester' apostrophiert, umkreist einen aporetischen Ort nachmetaphysischer Subjektivität. Zwischen den Extrempolen spätromantischer Expressivität als Kulminationspunkt von Identitätsversicherung und eines Subjektivität durch die Abstraktion in eine kalte, ritualisierende Sprache aufhebenden Kalküls Beckettscher Moderne changierend, eignet dem Werk ein tiefes Misstrauen gegenüber jeglicher unproblematischen und fraglosen Verschränkung von Besonderem und Ganzem. Gerade hier die themendualistische Gattungstradition des Konzertes gewahrt: Einerseits die zu ritueller Starre hin erkaltete Sprache des Orchesters, die aus motivischen Fragmenten eigener, früherer Stücke gewonnen (deren Unmittelbarkeit durch Historisierung also verloren gegangen) der Stereotypie eines Beckett entlehnten Fernsehstück-Choreographie ('Square') folgt, andererseits das expressive Überströmen des Geigenparts, dessen Fluchttendenzen zur tautologischen Innerlichkeit eines entleerten Traditionalismus regredieren. Im Ringen um Subjektivität erweist sich eben dieser Bezugsmodus als Topos. Erweist sich schöpferisches Subjektsein als Chimäre, das im Versuch sich mittels diastematischer Brahms-, Berg- und Mendelssohnergüsse einer emanzipierten Identität zu versichern, die längst abstrakt geworden, scheitern muss.
Alles Individuelle gerät hier zur Oberfläche abstrakter Mechanismen - gerade die sich der Rationalität von Erinnerungsarbeit vermeintlich entziehende Spontaneität des Violinparts fußt auf den Proportionen eines algorithmisch streng determinierenden Trauerchorals Carlo Gesualdos.
Subjektivität so als flüchtiger Schatten einer objektiven Totalität, die das partikular Seiende mechanisch fundiert, den schöpferischen Seinshorizont des Besonderen seiner Zirkelhaftigkeit überführt, die Ohnmacht einer Identität expliziert, deren Individualisierungstendenzen zur Bestätigung objektiver ordo geraten, die über jene bloße Affirmation eines autopoietischen Ganzen nicht hinauszuweisen vermag.
'Residua', in der Thematisierung des Erinnerns selbst, verweist so auf jene problematische Verschränkung von historisch Entäußertem und einem Erkenntnissubjekt, dessen Identität durch den Mangel an echtem Differenzraum im Totum einer vereinnahmenden Erinnerungsmechanik selbst fragwürdig wird."

Nuff said? Zwei Dinge noch: Soloviolinistin Hellen Elisabeth Weiß sieht auf der Bühne völlig anders aus als auf dem Foto im Programmheft, aber trotzdem klasse, und nach dem Konzert beginnt in der Reihe hinter dem Rezensenten jemand den Hape-Kerkeling-Klassiker "Der Wolf ... das Lamm ... Hurz!" zu intonieren.
Das Styropur, das in Polzhofers Stück von einem der Schlagzeuger zerkleinert worden war, rächt sich im Intro von Strauss' "Tod und Verklärung", indem jemand ungeplant darauf tritt und somit Störgeräusche erzeugt, so daß noch einmal von vorn begonnen werden muß. Die Gestaltung der Dunkelheit des Schlafes gelingt allerdings auch beim zweiten Versuch, wenngleich wieder nicht alle Einsätze sitzen. Dafür weckt die Pauke zuverlässig nicht nur den Protagonisten auf, die Tutti entfalten viel Power, auch das Dynamikmanagement weiß über lange Zeit zu überzeugen, und das Meisterstück von Windfuhr und den Studenten wird die enorm spannungsgeladene Passage um den großen Gong herum. Daß der Schlußteil nicht so richtig strahlt, sondern eher fahl glänzt, könnte sogar Gestaltungsabsicht gewesen sein, und nur die Härte der Schlußstufung paßt nicht so richtig zur thematischen Verklärung. Trotzdem erntet das groß besetzte Orchester (drei Sitzreihen im Saal müssen demontiert werden, um die Bühne auf die nötige Größe zu bringen) viel Applaus aus den gut gefüllten Publikumsreihen.



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