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Der müde Tod   15.09.2011   Leipzig, Musikinstrumentenmuseum
von rls

Die Kunst des Improvisierens bildete lange Zeit eine Grundvoraussetzung des Musizierens überhaupt und trat erst im 18. und 19. Jahrhundert, als die Komponisten begannen, immer exaktere Spielanweisungen für ihre Werke zu geben, schrittweise in den Hintergrund. Das 20. Jahrhundert sah dann eine ambivalente Situation: Einesteils verstärkte sich die Neigung der Komponisten, die Livereproduktion ihrer Werke genauestens zu determinieren, noch einmal ein gutes Stück, andererseits traten neue Genres auf den Plan, die der Improvisation einen deutlich breiteren Raum gaben, beispielsweise der Jazz. Das gipfelte dann in der Rockmusik der 60er und 70er Jahre unter dem Begriff "Jamsession", wo Bands wie Grateful Dead oder Deep Purple auf ihren Konzerten aus einer dreiminütigen Studiovorlage mal eben halbstündige Liveversionen zauberten, die durchaus an jedem Abend anders klingen konnten (schön nachzuhören beispielsweise auf der 1976er Deutschlandtour von Ritchie Blackmore's Rainbow, von der mittlerweile alle Konzertmitschnitte offiziell auf CD erhältlich sind).
Eines der Genres, wo im 20. Jahrhundert die Improvisation nach wie vor eine Grundvoraussetzung des Gesamterlebnisses bildet, ist der Stummfilm - der wurde seinerzeit nämlich live im Filmtheater musikalisch untermalt, und zwar von wechselnden Besetzungen. Da größere Ensembles aber natürlich entsprechend teuer waren, erfand man die Kinoorgel, die es ermöglichte, mit nur einem Musiker auf nahezu der gesamten Klaviatur der Stimmungen, die man für einen Filmscore so brauchte, zu spielen. Mitteldeutschlands einzige erhaltene Kinoorgel steht heute im Musikinstrumentenmuseum der Leipziger Universität, stammt aus der Werkstatt Welte & Söhne, hat 42 Register (davon erstaunlich wenige Prinzipale, dafür umso mehr aus der Flötenfamilie) und dazu eine ganze Latte an Effekten vom Lokomotivenpfiff über verschiedenste Schlaginstrumente bis zum Vogelgezwitscher. Fixierte Filmscores waren zu Stummfilmzeiten eher unüblich, so daß der Organist im Regelfall zu improvisieren hatte. So erschien es also nur natürlich, daß das 2. Leipziger ImprovisationsFestival auch eine Filmvorführung samt Orgelimprovisation an ebenjener Welte-Orgel, die 1965 aus Erfurt ins Museum kam, aber erst kürzlich restauriert wurde, ins Programm aufnahm.
Als Film ausgewählt hatte man "Der müde Tod", einen 1921er Klassiker von Fritz Lang in einer rekonstruierten Fassung, die in einem englischsprachigen Land angefertigt worden war - sämtliche Zwischentitel und eingeblendeten Dialoge waren in Englisch gehalten, was ein kurioses Bild abgab, wenn man die Mundbewegungen der Schauspieler deutsche Texte formulieren sah (bei der Synchronisation hat man sich ja mittlerweile dran gewöhnt, aber in der Optik-Kombination dieses Abends war es doch reichlich skurril). Für Lachstürme im Publikum sorgte auch der Abspann, der das Mont Alto Picture Motion Orchestra, angegeben in Quintettbesetzung, als Verantwortliche für die Filmmusik angab - an der Orgel saß an diesem Abend natürlich nur eine Person, nämlich Svitlana Kapitanova. Ob die gebürtige Ukrainerin sich an dem angegebenen Vorbild orientierte, kann mangels dessen Kenntnis natürlich nicht bewertet werden - aber bei ganz neutraler Betrachtung zog sie sich erstklassig aus der Affäre, und das, obwohl sie eine Heidenarbeit zu verrichten hatte, nämlich 105 Minuten am Stück zu spielen und dabei auch noch die ganze Umregistrierung selber zu erledigen. Generell wählte sie eher dezente Untermalungen, die allerdings trotzdem ein breites Spektrum an Stimmungen abdeckten; nur an einigen wenigen Stellen hätte man sich doch einen Tick mehr musikalischen Druck und in zwei, drei Momenten eine etwas frühere Hinleitung zu bestimmten Handlungsmotiven erhofft. Dafür entschädigten die geschickt eingeflochtenen fremdländischen Melodieskalen - Teile des Films spielen im Nahen Osten bzw. in China, und Kapitanova setzte diese Szenen dann auch musikalisch passend um. Daß sie eigentlich Pianistin ist, hörte man ihrer eher zurückhaltenden Pedalarbeit an, ohne daß man dies als störend empfunden hätte - eher im Gegenteil: Eines der tiefen Baßregister erzeugte schnarrende Resonanzgeräusche in der Verkleidung der Lüftungsrohre oder einem anderen dort befindlichen Bauteil, und die lenkten die Aufmerksamkeit vom Geschehen ab, ohne einen anderweitigen Mehrwert zu erzeugen. Generell betrachtet jedenfalls fand Kapitanova die passenden musikalischen Mittel und entging auch der Versuchung, allein aufgrund des Titels zu schleppend-lähmend zu musizieren - so müde ist der Tod nämlich gar nicht, er tut im Prinzip nur seinen (zugegebenermaßen nicht leichten) Job. Zudem hat Lang einige humoristische Elemente eingebaut, etwa den Brief des chinesischen Herrschers an den Zauberer A Hi, der auf einer meterlangen Schriftrolle mit riesigen Buchstaben geschrieben ist, und lockert damit das durchaus ernste (und ernst endende) Geschehen etwas auf; Schauspielhistoriker werden mit Interesse den Namen von Eduard von Winterstein im Abspann entdeckt haben, der in der Nahostszene den Kalifen spielt - ja, es ist der Mann, dessen Namen das Theater in Annaberg-Buchholz heute trägt. So endete ein unterhaltsamer, vergnüglicher, aber durchaus auch nachdenklich machender Filmabend mit herzlichem Applaus für die Organistin, die noch eine (unbebilderte) Zugabe anhängte.



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