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Konzert für Neugierige: Humor   10.09.2011   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Mit "Bleiben Sie schön neugierig!" pflegte Hans-Joachim Wolfram die Zuschauer seiner Kultsendung "Außenseiter-Spitzenreiter" zu verabschieden. Das Mendelssohn Kammerorchester Leipzig hat sich diese Aufforderung ebenfalls zueigen gemacht und einen entsprechenden Haupttitel samt eines präzisierenden Untertitels für seine Konzerte im Mendelssohn-Saal des Leipziger Gewandhauses in der Saison 2011/12 gewählt. Dabei ist das mit dem Humor so eine Sache, wie auch Moderator Peter Korfmacher bemerkt: Nicht alle Werke dieses Abends führen dazu, daß der Hörer vor Lachen unter dem Stuhl liegt - aber es gibt eine feinsinnige Schichtung vielerlei humoristischer Schattierungen im Programm.
Das geht schon in den eröffnenden Two Pieces von Frank Bridge los, hier zu hören in einer Streichorchesterfassung von Paul Hindmarsh, während das Original vier Stücke umfaßt und für Streichquartett geschrieben ist. Bridge, der Nachwelt hauptsächlich bekannt als Lehrer von Benjamin Britten, stellt unter Beweis, daß er ebenso anachronistisch wie zukunftsweisend komponieren kann, und Dirigent Peter Bruns läßt das MKO im "Valse Intermezzo" derart flüssig walzieren, daß mehr daraus entsteht als nur ein simples Intermezzo. Auch die kleinen Verharrungen unterbrechen den Fluß nicht, nur die Tempoherausnahme im Mittelteil widersetzt sich dem "Panta rhei"-Motto - und dann setzt Bridge plötzlich einen witzigen Kontrapunkt in Gestalt eines lärmorientierten Schlusses. Das Scherzo Phantastick wiederum geht fast als Frühform des Progressive Rock durch: häufige Beatwechsel, ein von zahlreichen verschleppten Breaks gerahmtes flottes Hauptthema, eine Reihe witziger Einfälle, Offbeats aus der Rhythmusabteilung, die hier von den Tiefstreichern gestellt wird - fertig ist eine kleine Perle, die das MKO an diesem Abend auch gehörig aufpoliert.
Mit dem Humorgehalt des nächsten Stückes ist's so eine Sache: Zumindest so vordergründig wie in manchem anderen Werk Joseph Haydns (es fällt einem natürlich sofort der simulierte sinfonische Paukenschlag ein) tritt nicht mal ein Augenzwinkern in der Sinfonie Nr. 63 "La Roxolane" in Erscheinung. Das macht freilich nichts, und die hörbare Spielfreude des Orchesters zaubert dem Hörer dann doch ein Dauerlächeln ins Gesicht, zumindest fast durchgehend - im ersten Satz "Allegro" nervt die Flöte vor allem in den lange ausgehaltenen Tönen noch etwas. Trotz gewissen Bombastfaktors bleiben aber alle Hauptlinien klar durchhörbar. Das Allegretto an zweiter Satzstelle bringt in der MKO-Interpretation dann das Kunststück fertig, recht zurückhaltend zu agieren, aber trotzdem einen unwiderstehlich drückenden bzw. treibenden Grunddrive zu erzeugen, dem man sich als Hörer kaum entziehen kann. Der laute Schluß schielt schon in den dritten Satz, das Menuet, hinüber, wo das nächste Kunststück lauert: Bruns läßt die Pausen recht lange ausspielen, ohne damit aber den Groove entscheidend zu kappen. Einige kleine Probleme in der Feinabstimmung sollten nicht überbewertet werden, denn im "Presto" überschriebenen Finale mit seinen bizarren Wechseln zwischen den jeweils die Tempomacherfunktion ausübenden Stimmen gibt's nochmal locker-flockigen Speed vom Faß, und das in allerhöchster Qualität. Wer übrigens wissen will, was sich hinter dem Begriff "Roxolane" verbirgt, der darf intensive Studien zur Geschichte der Kaukasusvölker betreiben ...
Da das Konzert in die Mendelssohn-Festtage des Gewandhauses eingebunden ist, steht natürlich auch Musik Mendelssohns im Programm: Nach der Pause folgen die beiden Konzertstücke für Klarinette, Bassetthorn und Klavier in der Fassung von Rainer Schottstädt, die das Klavier durch eine Orchestrierung ersetzt. Der Witz liegt hier in der Entstehungsgeschichte begründet: Die Klarinettisten und Bassetthornisten Carl und Heinrich Bärmann hatten auch noch andere Talente - sie kochten erstklassige Dampfnudeln, die Mendelssohn sehr liebte. So lag ein Deal nahe, als Mendelssohn die Bärmanns zweimal in Prag besuchte: Während die beiden für ihn kochten, schrieb er je ein Stück für die beiden. Da die Zubereitung einige Zeit in Anspruch genommen zu haben scheint, wurden immerhin je drei Sätze in der typischen Schnell-Langsam-Schnell-Struktur daraus, die Bruns an diesem Abend nahezu attacca spielen läßt. Die Solisten Martin Spangenberg (Klarinette, stehend und partiell wild mitgroovend) und Johannes Peitz (Bassetthorn, sitzend) arbeiten prima miteinander (in der Kadenz am Ende des zweiten Stückes sind sie mal kurz uneins, ansonsten sitzen auch die wildesten Läufe, von denen es reichlich gibt) und bringen es fertig, die elegischeren Teile auch dann nicht zu zerstören, wenn sie immens viele Noten auf kurzer Distanz unterzubringen haben. Statt dessen schaffen sie mit einer Extraportion Pathos im ersten Satz des zweiten Stückes eine ironische Brechung zur doch recht zackigen Umgebung, und das Finale des ersten Stückes verdichtet die Komposition derart, daß man den dringenden Verdacht hegt, Mendelssohn habe schnell zum Ziel kommen müssen, weil die Nudeln fertig waren - ein Stilmittel, das im zweiten Stück in abgeschwächter Form auch nochmal wiederkehrt und vom Publikum goutiert wird, ohne daß man aber den Solisten eine Zugabe entlocken kann.
"Witzischkeit kennt keine Grenzen, Witzischkeit kennt kein Pardon" hätte als Motto für das letzte Stück des Abends getaugt: das Pervertimento für Dudelsack, Fahrrad, Luftballons und Streicher von P.D.Q. Bach. Über diesen fiktiven, vom amerikanischen Komponisten und Musikwissenschaftler Peter Schickele erdachten letzten Sohn von Johann Sebastian Bach existiert ein sehr informativer Wikipedia-Eintrag, auf den hier bezüglich der Hintergründe verwiesen sei, und damit die Entdeckerfreude beim Selberhören des Stückes nicht getrübt wird, sei an dieser Stelle auch nicht mehr über den Inhalt des fünfsätzigen Werkes verraten. Nur so viel: Man kann eine handkurbelbetriebene Fahrradsirene tatsächlich zum Akkordstützen verwenden (nur Oktavsprünge sind technologisch etwas schwierig umzusetzen), die zweite Romanze kommt in der Satzfolge tatsächlich vor der ersten, und der dritte Satz (dessen Schlußstruktur an Heinz Erhardts "Die Made" erinnert) heißt tatsächlich "Minaret and Trio". Selbst einige Orchestermusiker lachen sich beim Spielen schief, auch das Publikum biegt sich vor Lachen, und der letzte Satz "Presto Changio", der Fahrradsolistin Sibylle Nowak teilweise Schwerstarbeit abverlangt, muß als Zugabe nochmal wiederholt werden. Ein feines Schmankerl am Ende eines auf verschiedenste Arten immer unterhaltsamen Konzertes! Die nächsten Termine und alle weiteren Informationen: www.mko-leipzig.de



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