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Das Wettrennen auf dem Mississippi   26.06.2011   Böhlen, Kulturhaus
von rls

Die Figuren aus dem "Mosaik" haben zumindest in den neuen Bundesländern zweifellos Kultstatus. Noch heute geistern die Abrafaxe durch die Weltgeschichte und erleben spannende Abenteuer - momentan sind sie gerade im London des frühen 18. Jahrhunderts und treffen u.a. Edmond Halley, Robert Hooke und Isaac Newton. Und auch der Rezensent gehört zu dem Personenkreis, der in seiner Kindheit mit den "Mosaik"-Figuren sozialisiert worden ist - aber eben mit den Abrafaxen, die sich zur Zeit seiner Geburt gerade in Dalmatien mit den venezianischen und türkischen Besatzern herumärgerten, und rein altersbedingt nicht mit deren Vorläufern, den Digedags. Dig, Dag und Digedag bildeten sozusagen die "Gründungsbesatzung" des Mosaik und gingen 1975 aufgrund von Streitigkeiten des Verlages mit ihrem Erschaffer Hannes Hegen in den Zwangsruhestand, aus dem sie allerdings in verschiedenen Kontexten immer mal wieder auftauchen. Einesteils gibt es die ganzen alten Hefte mittlerweile auch in Buchform, andererseits aber erobern sich die Digedags auch neue Kunstformen, etwa das Musical. Martin Verges hat bereits die Abenteuer der Ritter-Runkel-Serie in Musicalform gebracht und sich nun an ein weiteres Projekt gewagt: das Auftaktabenteuer der USA-Serie als Musical namens "Das Wettrennen auf dem Mississippi".
Dieses nimmt seinen Ausgang in New Orleans, wo die Digedags als Zeitungsreporter unterwegs sind und aufgrund einiger Mißverständnisse die "Schuld" an einem Wettrennen zweier Schiffe tragen, der altersschwachen "Mississippi Queen" (deren Technikbeschreibung zum Gaudium der DDR-erfahrenen Zuschauer der eines Trabant 601 de luxe gleicht) und der modernen "Louisiana", das von New Orleans nach Baton Rouge führt und das die "Mississippi Queen" aufgrund tugendhaften Verhaltens, etwa einem besseren Zusammenhalt der Mannschaft ohne Starallüren oder besserer Ortskenntnis, gegen die technisch hochüberlegene "Louisiana" gewinnt. Zugleich ist in die Geschichte noch der Auftakt für das nächste Abenteuer eingewoben, das sich um die Schleusung befreiter Sklaven aus den Südstaaten in die bereits ohne Sklavenhalterei arbeitenden Nordstaaten dreht.
Die Realisierung dieses Musicalprojektes liegt in den Händen der Musik- und Kunstschule des Leipziger Landes "Ottmar Gerster" unter tatkräftiger Führung des Leiters Klaus-Dieter Anders, und so gibt es am letzten Juniwochenende zwei Aufführungen des Werkes vor jeweils ausverkauftem Haus. Die Zahl der Mitwirkenden ist enorm: Ein volles Poporchester sitzt im Graben, eine Hundertschaft an Kindern verkörpert die Bürger von New Orleans und spielt einige Nummern auch geigend mit, selbst ein Feuerwehrorchester steht auf der Bühne - aber die Hauptarbeit leisten acht Schauspieler und Sänger, deren Alter im Falle von Paula-Marie Meinert (Dag) und André Telling (Dig) schon mal bis 11 bzw. 12 herunter reicht; Isabella Reichelt als Digedag ist auch erst 16. Alle drei haben aber schon jahre- bis jahrzehntelange Bühnenerfahrung und schlagen sich prächtig, wenn sie nicht gerade mal wieder von der Technik ausgebremst werden: Die Funkmikrofoneinstellungen erweisen sich nämlich an diesem Nachmittag als akuter Problemfall. Die Geräte sind offensichtlich auf eine viel zu große Empfindlichkeit programmiert, so daß neben Gesang und Sprache auch die Atem- oder andere Nebengeräusche wie etwa das Zerreißen einer Zeitung durch Mrs. Jefferson aka Antje Pampel mit verstärkt werden und das ganze dadurch erzeugte Klangbild regelmäßig an der Grenze der Übersteuerung kratzt, was vor allem die Textverständlichkeit teilweise stark beeinträchtigt. Bei den Gesangsnummern kann man das noch kompensieren, wenn man die Texte im Programmheft mitliest, aber die Sprechparts finden sich dort nicht, und so muß man die Handlung schon en detail anhand der Vorlage kennen (an die sich Verges im Prinzip 1:1 gehalten hat), um alle Wendungen und Handlungsstränge nachvollziehen zu können. Das ist schade und raubt der insgesamt beeindruckenden Spielleistung aller Beteiligten einen Teil des Reizes.
Für die Konzeption der Musik zeichnet Frank Liebscher verantwortlich. Der hat nur relativ wenig selber komponiert (in den großen Instrumentalparts könnte etwas Selbstgestricktes gesteckt haben), beweist dafür aber ein äußerst glückliches Händchen bei der Zusammenstellung der Musikstücke, für die Verges dann neue Texte schuf. Rahmenstück ist "Oh When The Saints Come Marchin' In", das mit der Titelzeile "Die Digedags, die Digedags, die Digedags in Amerika" sowohl den Eröffnungs- als auch den großen Schlußchor abgibt, wobei hier und da auch mal locker andere Themen wie "Oh Susanna" eingestreut werden. Im Zentrum des Geschehens steht allerdings "Auld Lang Syne", und hier beweist Liebscher, welch vielfältige Facetten man diesem Stück abgewinnen kann - es eignet sich sowohl als großer Trauergesang, als die "Louisiana" auf eine Sandbank gelaufen ist, als auch als flotter Siegeschoral, nachdem die "Mississippi Queen" die Untiefe mit letzter Kraft passiert hat. Auch die schwierigen Tempoverschleppungen in etlichen Stücken meistern alle Beteiligten ausgezeichnet. Reserven offen läßt das Beatles-Stück "Ticket To Ride", das Jonas Gräfe als in Befreiung befindlicher Negersklave Ben singt, um seinem Freiheitswunsch Ausdruck zu verleihen - das Problem liegt aber wieder mal an der Technik, die die hier aktive Rhythmusgruppe viel zu dumpf aus dem Graben dringen läßt. Aber eine große melancholische Hymne wie "Ol' Man River" macht solche kleinen Problemfälle locker wieder wett.
Verges' Inszenierung hat sich der Aufgabe zu stellen, mit eher überschaubarem technischem Aufwand ein Maximum an Wirkung zu erzielen, und der Regisseur löst diese Aufgabe durchaus ansprechend. Dabei hilft ihm die Grundstruktur, daß pro Szene jeweils ein markantes Bild aus den Originalheften an die Leinwand im Bühnenhintergrund projiziert wird. Ansonsten setzt er konsequent auf die Karte "Modellbau und Kinderspielzeug als Symbolik", und das gelingt ihm schlüssig, zumal er einige Geniestreiche verzeichnen kann, etwa den Papagei Käpt'n Kidd als Handpuppe. Fast zu plakativ wirkt da die Symbolik für die Sklavenbefreiung, als Ben sich den schwarzen Buchstaben N, der auf sein gelbes T-Shirt geklebt ist, abreißt. Daß die erste Mitklatschaufforderung von der Bühne ausgerechnet in "John Brown's Body" kommt und dann auch noch an der Stelle, als Colonel Springfield zum Angriff auf das Capitol in Washington aufruft (der Text ist perspektivisch umgedreht worden), stellt ein großes Kuriosum dar, das freilich im Publikum kaum jemandem aufgefallen sein dürfte. Im Schlußbild schwenkt das Volk in Baton Rouge übrigens durchgehend Südstaatenflaggen, auch die als Indianer verkleideten Kinder - noch so ein Kuriosum, das aber wohl ohne Hintergrund bleibt. Das Publikum jedenfalls zeigt sich bester Laune, applaudiert herzlich und bekommt das Ende des Schlußchores noch als Zugabe vorgesetzt, bevor es nach geschätzten knapp anderthalb Stunden Nettospielzeit den Heimweg antritt.



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