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9. Sinfoniekonzert   05.05.2011   Chemnitz, Stadthalle
von rls

Der 193. Geburtstag von Karl Marx gibt nur ein paar Meter von dem gigantischen Kopf des Jubilars entfernt nicht etwa den Anlaß für ein politisches Konzert ab - ein anderer Jubilar wird geehrt, freilich einer, der auf dieses Jubiläum wohl gerne verzichtet hätte: Gustav Mahler starb im Mai 1911, nur knapp über 50 Jahre alt, an einer bakteriellen Herzkrankheit, und somit steht sein 100. Todestag anno 2011 auf dem Kulturprogramm, dem übrigens fast die gesamten Feierlichkeiten zu seinem 150. Geburtstag, der anno 2010 angestanden hat, zum Opfer gefallen sind. Die Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz wählt zum Gedenken eines der wohl persönlichsten Werke des Komponisten, nämlich seine 6. Sinfonie, auch als die "Tragische" apostrophiert, weil man in dem ringenden und am Ende verlierenden Helden den Komponisten selbst wiederzuerkennen glaubte, der durch mancherlei Äußerungen auch Spuren in dieser Richtung zu lege mithalf. Aber egal ob man diese Sinfonie nun als Programm- oder als absolute Musik hört - es bleibt ein gewaltiges Werk, was allein schon dadurch deutlich wird, daß die nicht kleine Bühne im Großen Saal der Chemnitzer Stadthalle praktisch aus allen Nähten platzt, um alle Musiker unterzubringen.
Am Pult des Orchesters steht Frank Beermann, und der wählt ein durchaus nicht langsames Grundtempo für den ersten Satz. Die Einleitung gelingt so spannungsgeladen-düster, daß der Hörer förmlich einen Schreck bekommt, als die einen marschierenden Grundrhythmus erzeugenden Kontrabässe plötzlich damit aufhören. Den pseudomilitärischen Touch bricht der Komponist immer wieder ironisch auf - auch der Held bekommt bei seinem Weg bergaufwärts immer mal wieder einen Stolperstein vorgesetzt, und die Kuhglocken kommen nicht von der Bühne, sondern werden bei geöffneten Bühnentüren von rechts hinten eingespielt. Die ersten Ruhepole spielt das Orchester etwas zu statisch, aber der emotionale Zugriff sensibilisiert sich bald, und obwohl das Solohorn mal kurz wackelt, bekommt es gleich danach ein phantastisches Duett mit der Solovioline hin. In den Satzschluß legt Beermann, der sich bisher lautstärkeseitig eher zurückgehalten hat, schon eine ordentliche Portion Energie und erfüllt damit auch Mahlers Grundforderung an den Satz, die da "Heftig, aber markig" gelautet hatte.
Die Reihenfolge der Mittelsätze ist in der Mahler-Forschung umstritten; die Chemnitzer nehmen das Andante moderato zuerst und bestätigen damit ihren Aufwärtstrend in den ruhigen Passagen: Einem schönen entspannt-romantischen Intro, bei dem man sich als Held gemütlich neben der Heldin auf einer Bergwiese liegen sieht, folgen wunderbare Holzbläserwelten mit rosarotem Anstrich, dem das Solohorn nicht nachstehen will. Die Idylle bleibt lange erhalten, erst in die nächsten Kuhglocken (diesmal bühnenaktiv) mischt sich etwas Aufregung, aber das Drohpotential der Kontrabässe soll latent bleiben wie ein entferntes Gewitter, das zunächst am nächsten Bergkamm hängenbleibt. Erst bei den nächsten Kuhglocken ist es dann doch herangezogen und erzeugt große Finsternis, kongenial vom Orchester umgesetzt, das auch viel Spannung in den Schlußteil hinüberrettet, trotz der bedenklich wackelnden Flöten.
"Wuchtig" hat Mahler über das Scherzo geschrieben, aber mit welcher Wucht es den Hörer trifft, bleibt an diesem Abend stark vom Sitzplatz abhängig. Der Rezensent sitzt relativ weit hinten im Parkett, wo sich der Schall von der Bühne architekturbedingt schon ziemlich ausgebreitet hat - ergo hat er nicht den Eindruck sonderlich wuchtiger Klänge, während andere Besucher in den vorderen Reihen berichten, sie seien ziemlich klangüberrollt worden. Fest steht, daß Beermann hier eine recht konstrastverstärkende Strategie fährt und scharfe Gegensätze auf engstem Raum eher noch betont, als sie abzuschleifen. Mahlers Steilvorlage, wieder mancherlei Elemente ironisch zu brechen, hilft ihm dabei natürlich enorm, die Tuben ultrafinster grollen zu lassen und den Helden trotzdem noch nicht in den Abgrund zu stürzen, und einige hübsche Einzelleistungen versöhnen auch den Teil der Hörer, denen - sitzplatzbedingt oder nicht - die Wucht etwas gefehlt hat.
Aber eigentlich sind die beiden Mittelsätze nur Vorgeplänkel des gigantischen Handlungsblocks, der in Form des vierten Satzes attacca folgt. Wirkt das von draußen eingespielte Geläut noch arg künstlich, befriedigt der hervorragend gespielte Düsterchoral im Blech auch verwöhnte Ansprüche. Beermann legt viel Power in die Ausbrüche, wenngleich die unheildrohende Stimmung beim nächsten Glockenpart noch ein paar Schwärzegrade mehr hätte vertragen können. Dafür wiederum entschädigt das Geschehen rings um den ersten Hammerschlag, der den scheinbar triumphierenden Helden niederstreckt und auch optisch einen "Hatas!", also einen wohlberechneten Effekt abgibt, wenn sich der eine der sechs Schlagzeuger mit einem riesigen Holzhammer bewaffnet und in den Sekunden vor dem Ausholen wie ein Arbeiterdenkmal an der Bühnenrückwand steht. Den zweiten Schlag bereitet Beermann nicht so intensiv vor, spielt dafür aber äußerst zackig weiter, legt alle Zurückhaltung ab, auch die Glocken sorgen nicht mehr für Entspannung, und es baut sich ein gigantischer Scheintriumph auf, der Posaunenchoral wird nach kurzer Anlaufzeit tight, und die angestaute Düsterspannung löst sich in einem explosionsartigen Vorschlußakkord auf, der danach ins Nichts ausfadet. Alles klar - die Chemnitzer haben sich für die Variante mit dem gestrichenen dritten Hammerschlag entschieden, die die Fällung des Helden allein mit den anderen musikalischen Mitteln bewältigen muß und das auch zweifellos geschafft hat. Die Ergriffenheit des Publikums äußert sich in einer enorm langen Applauspause, nach der man förmlich apotheotisch klatscht und beruhigt feststellt, daß es anderen Menschen noch viel schlechter ergeht als einem selber - Tragik des eigenen Lebens hin oder her. Beeindruckende Leistung!



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