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Hochschulsinfonieorchester   15.04.2011   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Die Einweihung des Hauptgebäudes des Leipziger Konservatoriums fiel genau in die nur knapp zwei Jahre währende Periode, die Gustav Mahler als Dirigent in der Messemetropole tätig war. Ob er selbst bei der Einweihungsfeier zugegen war, kann die Forschung bis heute nicht beantworten, aber eine Einladung hatte er aufgrund seiner durchaus herausgehobenen Stellung im Musikleben der Stadt (er war Zweiter Kapellmeister am Stadttheater) sicher bekommen, und da die Einweihung vormittags war, die Theatervorstellungen aber üblicherweise abends stattfanden, hätte anno 1887 durchaus die Gelegenheit für ihn bestanden, diesem Ereignis beizuwohnen. Wie dem auch sei: 2011 gedenkt die Musikwelt des 100. Todestages Gustav Mahlers, und so widmet sich auch das Leipziger Hochschulsinfonieorchester in diesem Konzert dem Schaffen des großen Sinfonikers. Die Programmwahl ist natürlich keineswegs zufällig: Die "Lieder eines fahrenden Gesellen" hatte Mahler bereits im Gepäck, als er nach Leipzig kam (wenn auch nur in Form von Klavierliedern - die Fassung für Stimme und Orchester stellte er dann erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts fertig), und die 1. Sinfonie entstand 1888 gleich komplett in Leipzig, wurde dann allerdings erst ein Jahr später in Budapest uraufgeführt und im nächsten Jahrzehnt auch noch etliche Male umgearbeitet.
Nun wirft das Genre des Orchesterliedes ähnliche Probleme auf wie eine Wagner-Oper: Der Sänger muß irgendwie hörbar bleiben. Eine entsprechende Balance herzustellen gelingt dem Orchester und dem Bariton Ji-Su Park an diesem Abend allerdings nur selten - der Koreaner geht zwar nicht völlig baden, aber er wird doch zu oft von einer instrumentalen Decke eingehüllt. Immerhin hört man ihn zumindest phasenweise gut genug, um genauere Analysen seines Gesanges vorzunehmen, und da entdeckt man sowohl Licht als auch Schatten. Park hat zweifellos eine schöne Stimme - und das entpuppt sich als Problem, singt er doch nicht selten fast roboterhaft schön, egal wie herzzerreißend der Mahlersche Text (den Liedern liegen vier eigene Texte des Komponisten zugrunde) auch ist. So etwas wie emotionale Wärme spürt man bei ihm nur selten, und selbst die Verzweiflung, in der Einleitung des ersten Gesanges "Wenn mein Schatz Hochzeit macht" noch durchaus "echt" wirkend, bekommt mit fortlaufender Spielzeit immer mehr etwas Schematisches - technische Perfektion bei emotionaler Ödnis, also genau das Gegenteil dessen, was ein Jahrhundert zuvor das Ideal der damaligen Sängergeneration war. Das kann man in unserer heutigen Plastikwelt mögen, muß man aber nicht, und auch die Auslauthärte und das rrrrrrollende rrrrrr stehen immer kurz vor der Grenze zur Parodie. Für den Emotionentransport zeichnet also weitgehend das Orchester verantwortlich, und das zieht sich bedeutend achtbarer aus der Affäre, sei es im gekonnten fahlen Auslaufen des genannten ersten Liedes, dem locker aus dem Handgelenk geschüttelten "Ging heut' Morgen übers Feld" mit seiner schwierig zu nehmenden emotionalen Kehrtwende kurz vor Schluß (wo man die förmlich weinende Solovioline gern noch deutlicher gehört hätte), die Kraftausbrüche in "Ich hab' ein glühend Messer", die in ein ultrafinsteres Outro münden, oder der Trauermarsch in "Die zwei blauen Augen von meinem Schatz" bei "Ich bin ausgegangen in stiller Nacht", der schon eine Ahnung von dem vermittelt, was dann nach der Pause folgen wird. Auch instrumental ist allerdings nicht ganz alles im grünen Bereich, wie der deutlich zu holprige Schluß des vierten Liedes demonstriert. Steigerungsmöglichkeiten bleiben also noch offen.
Zu Beginn der 1. Sinfonie ist das Orchester hörbar nervös: Das Flageolett kommt nicht aus dem Nichts, sondern wird relativ laut angespielt, und auch die Nerven beim Holz flattern noch etwas. Das legt sich aber erstaunlich schnell und weicht einem durchaus eleganten Ansatz, der es freilich nie fertigbringt, die angestrebte entrückte Stimmung zu erzeugen. Auch wenn Dirigent Ulrich Windfuhr später mit tänzelnden Bewegungen andeutet, das Orchester solle mehr grooven, folgen ihm die Musiker zu zögerlich, was dann hier und da ein gewisses Ineinanderlaufen der musikalischen Farben erzeugt. Die Wende kommt in der Flageolettwiederholung, wo mit Einsatz der Tuba dann doch ein sinistres Klangbild gelingt, das auch dem Komponisten sicher gefallen hätte. Eine klare Strategie läßt sich allerdings auch für die weiteren Passagen nicht erkennen, eher ein Durchlavieren, in dem die Power zum Schluß zwar sitzt, aber die Hektik viel zu groß ist. An zweiter Satzposition erleben alle, die das Programmheft nicht gelesen haben, eine Überraschung: Windfuhr fügt den in einigen Frühfassungen enthaltenen, aber bei Drucklegung 1899 bereits in der Versenkung verschwundenen "Blumine"-Satz ein, den man heute nur sehr selten hört (Barbara Rucha, die das prinzipiell gleiche Konzert am Folgetag dirigiert, verzichtet darauf). Er entpuppt sich als "schmalzig" im besten Sinne des Wortes; einige mäßige Einsätze können die schöne Stimmung nicht trüben, Windfuhr zeigt durch "gerundete" Bewegungen an, wohin er will und wohin ihm das Orchester diesmal willig folgt, wobei der harmonische Fluß auch durch die Tempoverschärfungen hindurch erhalten bleibt. Das gilt auch für das Trio inmitten des Scherzos, vor dem Mahler allerdings dessen Hauptteil plaziert hat, dessen rhythmisches Intro die Studenten fast rabiat nehmen, später trotz einiger Störgeräusche beinahe ins Maschinelle umschaltend, bevor das blitzartige Umschalten auf Groove kurz vorm Trio diesmal von allen Beteiligten mitvollzogen wird. Nach dem Trio kommt eine kurze Wiederholung des Scherzos, und hier greift Windfuhr fast gar nicht mehr ein, sondern läßt die Studenten einfach laufen. Das freilich nehmen diese als Freibrief fürs Adagio und setzen dieses nach der gut gelungenen Kammermusikeinlage in der Einleitung gegen den Baum, als die Tuba zu spät einsetzt und das Holz nervös antwortet. Es dauert längere Zeit, bis wieder die nötige Ruhe herrscht (die gelungenen flotten Offbeats über dem schleppenden Grundtempo tragen sicher ihr Scherflein dazu bei), aber Unsicherheiten besonders in den stillstandsnahen Passagen können nie ganz weggewischt werden. Zwar nehmen die Studenten Mahlers Anweisung "Mit Parodie" mit diebischer Freude wörtlich, wenn sie den Sargtransport hier und da programmgemäß stolpern lassen, aber die angestrebte brütende Stimmung entsteht hier nirgendwo, auch im Satzschluß nicht, dessen Spannung zu schnell in sich zusammenfällt. Trotzdem trifft die Finaleinleitung den Hörer noch wie ein Keulenschlag, vegetiert der Held später vor sich hin, wie es das Programm vorsieht, gelingt die düstere Stimmung vor dem nächsten großen Ausbruch nahezu perfekt. Ganz kurz herrscht Höchstspannung, bevor die Bratschen den Hörer anspringen wie ein Tiger und den Startschuß für die gigantische, aber strukturierte Lärmwand geben, die da am Ende von der Bühne geflogen kommt - hier erweist sich der im Vergleich mit etwa dem Großen Saal im Gewandhaus relativ kleine Große Saal der Hochschule als Vorteil, denn die Wirkung auf den Hörer ist viel direkter, und diesem wird nachhaltig ausgebleut, daß die Direktheit auch für das Nichtgelingen der entrückten Stimmung an mancher Stelle mitverantwortlich gewesen sein könnte. Analytiker, die die Wirkung in einem anderen Raum untersuchen wollten, konnten das gleiche Programm als Hochschulgastspiel am 7.5.2011 im Konzertsaal des Geraer Theaters hören.



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