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Hochschulsinfonieorchester   06.11.2010   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Das mittlerweile zur Tradition gewordene Konzert zum Gedenken an den Todestag Felix Mendelssohn Bartholdys Anfang November verknüpft das an der nach ihrem Gründer benannten Hochschule stationierte Sinfonieorchester anno 2010 in geschickter Weise mit dem Gedenken an zwei weitere Protagonisten, die in der langen Geschichte der Hochschule wichtige Funktionen ausübten und die in diesem Jahr runde Todestage im Kalender stehen haben. Da wäre zunächst Günter Raphael, anno 1960 mit nur 57 Jahren verstorben und einer der hoffnungsvollsten Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - wenn, ja wenn ihm sein Status als Halbjude nach 1933 nicht massige Steine in den Weg gerollt hätte, die er nur mit größter Mühe beiseitewälzen konnte, was seine Gesundheit nachhaltig untergrub. Nach acht Jahren durchaus erfolgreicher Tätigkeit als Kompositionslehrer sah sich die Hochschule denn auch gezwungen, seine Anstellung 1934 zu kündigen. Daß Raphael dank verschiedener glücklicher Umstände die zwölf nationalsozialistischen Jahre samt des Krieges überlebte, hatte die für die Nachwelt angenehme Folge, in den Genuß solch origineller Werke wie der "Jabonah"-Ballettsuite nach mongolischen Volksweisen zu kommen, die Raphael 1948 schrieb und die keineswegs als sowjetisch verordneter Freundschaftsbeweis zum zweiten sozialistischen Staat der Erde mißverstanden werden darf (wie er beispielsweise in der Benennung eines Berges im Nordkaukasus als "Pik der Mongolischen Volksrepublik" zutage trat): Erstens lebte Raphael nach dem Krieg in den westlichen Besatzungszonen, und zweitens interessierte ihn die mongolische Ethnologie wirklich. Das viersätzige Werk ist generell sehr bildhaft angelegt - seine Ballettzuordnung wird deutlich, aber man kann ihm auch einen cineastischen Charakter attestieren, und an dessen Transparentmachung hat das Hochschulsinfonieorchester unter Ulrich Windfuhr offensichtlich einen Heidenspaß, was in den drei flotteren Sätzen überdeutlich wird. Kernstück der Suite ist allerdings der zweite, und der atmet eine fast überirdische Ruhe und legt eine Kuscheldecke über die Steppe, nur mal ganz kurz von den Hörnern dramatisiert. Flöte und Saxophon wechseln sich im Solieren ab, und am Ende senkt sich wieder die Nachtruhe hernieder. Das Kontrastprogramm bieten der flotte, offbeatbetonte Eröffnungssatz (fünf Schlagzeuger wollen beschäftigt sein), der Karawanenzug samt Begegnungskatastrophe an einem Engpaß in Satz 3 (eine Atombombe hätte nicht dramatischer explodieren können) und schließlich der ganz kurze Schlußsatz, der erst ohne Streicher viel Bombast und dann mit Streichern noch mehr Bombast aufbaut.
Weit über 40 Jahre lang unterrichtete Carl Reinecke am damaligen Konservatorium Leipzig, um sein übersichtliches Gehalt als Gewandhauskapellmeister aufzubessern (sagt das Programmheft). 1910 starb er, also vor 100 Jahren, und das nahezu komplette Vergessen seines kompositorischen Schaffens hat erst im Rahmen dieses Centurien-Gedenkens eine gewisse Gegenbewegung erfahren. An diesem Abend liegt das Konzertstück für Klavier und Orchester op. 33 auf den Pulten des Orchesters, und das entpuppt sich schnell als völliger Anachronismus, wenn man seine Entstehungszeit (die 1870er Jahre) bedenkt - hier regiert noch die alte Mendelssohn-Schule. Das muß prinzipiell ja nichts Schlechtes bedeuten, aber eventuelle Geniestreiche in diesem Stück erschließen sich an diesem Abend kaum. Das liegt im wesentlichen an der Klangbalance: Das Orchester ist schon äußerst übersichtlich besetzt (kein Schlagwerk, nur zwei Holzbläser und ein Horn), aber trotzdem hört man von Andrew Wonjun Paes Klavierspiel zumindest in der unteren Hälfte der Tastatur nahezu nichts. Nur wenn das Orchester komplett schweigt (was es auffällig oft tut), kann man kurzzeitig versuchen, sich ein komplettes Bild von seinem Spiel zu verschaffen. Reinecke hat allerdings das Kunststück fertiggebracht, das Ideenfüllhorn schon in der ersten Hälfte der geschätzten Viertelstunde Spielzeit auszuschütten, und weder Orchester noch Pianist bringen in die zweite Hälfte dann noch irgendwelche Überraschungsmomente ein, so daß der Hörer irgendwann resigniert abschaltet, zumal sich das Klangüberlagerungsproblem nicht bessert. Dabei hat man in der ersten Hälfte durchaus ein paar interessante Ideen gehört, etwa die finsteren Tiefen gleich im Intro vor dem ersten Klaviereinsatz, das große Exzelsior vor einer radikalen Tempoverschleppung oder die monströse Dramatik am Ende dieser Verschleppung. Diese Passagen beweisen, daß erstens im Stück doch eine gewisse Sprengkraft steckt und zweitens die beteiligten Musiker dieses Abends diese durchaus auch zünden können. Aber es bleiben einzelne Feuerkugeln in einer Dämmerung, und so ist der Applaus des wieder erwachten Publikums zwar durchaus herzlich, reicht aber nicht, um dem Amerikaner mit asiatischen Wurzeln noch eine Zugabe zu entlocken.
Vom Hochschulnamensgeber hat man diesmal die Schottische Sinfonie ausgewählt, die nach der Pause erklingt, übrigens nur aus Satz 3 attacca in Satz 4 übergehend, nicht die anderen Sätze auch noch verbindend, wie der Komponist es einstens als Wunschvorstellung postulierte. Die Andante-Einleitung des ersten Satzes entbehrt noch etwas der nötigen Eleganz, klingt zu trocken, während der Allegro-agitato-Hauptteil dieses Satzes deutlich besser fließt, seinen leicht elegisch angehauchten Grundcharakter aber stets durchhörbar behält. Die Sturmpassage gegen Satzende liegt etwa zwischen Windstärke 8 und 9, auch die Beruhigung zum Satzende gelingt mit der intendierten Intensität, die hier freilich in entgegengesetzter Windrichtung zu suchen ist. Das Scherzo an zweiter Satzposition läßt Windfuhr in durchaus flottem Grundtempo nehmen (man kennt das ja von ihm, daß er gerne zügig zum Ziel vorstößt), ohne daß das Gehämmer und Gesäge dabei im Chaos endet. Dabei hilft ein gelungenes kleinteiliges Tempomanagement, und für den leise hämmernden Schluß (nein, das ist kein Oxymoron) erntet das Orchester sogar eine kleine Sonderlobgeste des Dirigenten. Der nimmt auch das Adagio nicht gerade langsam und transportiert damit weniger Schmerz und dafür etwas mehr Dramatik, was kein schlechter Tausch ist, wie man bemerkt, wenn einem in der Orchesterumsetzung des Blechchorals und den folgenden Passagen die Haare förmlich zu Berge stehen, und das aus Erbaulichkeitsgründen, nicht vor Schreck. Nur mit der zu inszenierenden Nervosität im vierten Satz übertreiben es die Studenten dann doch ein wenig. Mit zunehmender Routine werden sie auch lernen, solche Probleme zu vermeiden wie in der ruhig verharrenden und dadurch spannungsgeladenen Passage vor dem Anhub der großen Schlußtriumphmelodie, als die Spannung dadurch torpediert wird, daß viele Musiker gleichzeitig während dieser Verharrung umblättern und dadurch eine nicht unbedingt geräuschvolle, aber atmosphärisch doch wahrnehmbare Störung erzeugen. Der Triumph des Schlußteils sitzt jedenfalls wieder, auch wenn ihm keine Entwicklung mehr innewohnt, und der letzte Paukenschlag füllt donnernd den ganzen Raum. Diesmal applaudiert das Publikum so ausdauernd, daß sich Windfuhr und das Orchester noch zu einer Zugabe hinreißen lassen - da sie aber kein weiteres Stück vorbereitet haben, wird das Scherzo kurzerhand nochmal gespielt und das Publikum zufrieden in den noch relativ jungen Abend entlassen.



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