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Humboldt-Ensembles   03.10.2010   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Neben dem 20jährigen Jubiläum des Beitritts der DDR zur BRD gibt es in den ersten Tagen des Oktobers 2010 noch etwas anderes zu feiern, nämlich das 200jährige Bestehen der Humboldt-Universität Berlin. Aus diesem Anlaß haben sich vier Ensembles dieser traditionsreichen Hochschule zusammengetan (man verfügt über zwei Chöre und zwei Orchester) und mit dem resultierenden riesigen Apparat ein Konzertprogramm erarbeitet, das außer in Berlin auch noch anderweitig erklingt, so an diesem Abend im mäßig besuchten Leipziger Gewandhaus. Den ersten Teil des Programms füllt dabei die Kosmos-Symphonie von Walter Steffens, ein Auftragswerk zum Unijubiläum, beruhend auf drei Gedichten Goethes, die etwas mit der Entdeckung und Erforschung kosmischer Phänomene zu tun haben. Nach dem Hören ist man freilich in vielen Fragen genauso schlau wie zuvor, und daran scheint der Komponist zumindest eine Mitschuld zu tragen. Er läßt den Chor nämlich auffällig oft gegen das volle Orchester ansingen, und selbst wenn man die Texte im Programmheft mitliest, hat man große Mühe, viele Worte akustisch richtig zuzuordnen. Diese Strategie mutet mindestens seltsam an und erlaubt hier auch kein Urteil über die Qualitäten des Chores, der häufig mehr deklamatorisch als melodisch zu agieren hat und im Finale ein paar Orff-Parallelen aus dem Orbit hervorzaubert. Und daß das Orchesterintro einen kleinen Schlenker gen "Also sprach Zarathustra" unternimmt, dürfte auch kein Zufall sein. Ansonsten bestehen große Teile des Orchestermaterials außerhalb der Passagen, wo es den Chor niederzuknüppeln hat, aus ambienten Klangflächen zumeist der Streicher, über denen einzelne Blasinstrumente solieren, was für sich betrachtet an einigen Stellen durchaus interessant ist, aber auf Dauer so sehr ermüdet wie das Beobachten eines leeren Fixpunktes am Himmel über eine ganze Nacht. Da ist man richtig dankbar über die eine oder andere fast jazzig anmutende Passage mit Schellenkranz, flatulenzartiger Tuba und aberwitziger Rhythmik, die das Interesse wachzuhalten hilft. Nicht überzeugen kann das Finale: ein wenig ziellos wirkende Orchesterpower, und dann endet das Werk einfach - gut, vor analoge Probleme stellten auch andere Komponisten ihre Hörer schon. Kein uninteressantes Werk, nein, das nicht - aber so richtig zum Schweben bringt es das Publikum auch nicht, so daß der Applaus nicht mal für einen zweiten Vorhang reicht.
Bekanntes Terrain betritt man dann in der zweiten Konzerthälfte (zeitlich über zwei Drittel der Gesamtspielzeit ausmachend): Mit Beethovens Neunter steht ein Klassiker auf dem Spielplan, der für große Festlichkeiten immer wieder gerne hervorgezaubert wird, selbst wenn es in Beethovens eigenem Schaffen deutlich reizvollere Alternativen (aber eben ohne dieses Chorfinale) gibt. Und wenn man dann auch noch ein Riesenorchester vor sich hat, das aus mehreren Klangkörpern zusammengesetzt ist, die nicht permanent gemeinsam musizieren, bleiben die Schwierigkeiten oft nicht aus. So auch hier: Dirigent Constantin Alex wählt schon ein moderates Tempo, über das die Beethovenbeschleunigerfraktion um Riccardo Chailly nicht einmal nachdenken würde, aber selbst diese Wahl kann nicht verhindern, daß das Orchester häufig ins Schwimmen gerät, wobei sich wirklich gelungene Momente mit akuten Schwierigkeiten munter abwechseln. Ein kleines Beispiel: Der Ausklang des ersten Satzes holpert mehr schlecht als recht vor sich hin - die Einleitung des zweiten Satzes aber kommt genau mit der intendierten scharfen Kontur von der Bühne geschossen. In den eher kammermusikalisch geprägten Passagen sieht es ähnlich aus - da gelingt mal ein zauberhafter Dialog der Holzbläser im zweiten Satz, während sich die Hornfraktion als Schwachpunkt der ganzen Sinfonie erweist: Spätestens im dritten Satz ist der Ansatz offenbar restlos verschwunden, schallen gruselige Mißstimmungen durch den Raum. Und dieser dritte Satz ist eh so eine Sache, weil alles andere als eine Sternstunde des Komponisten: Hier kostet es selbst Spitzenorchester große Anstrengung, eine Linie ins ziellos wirkende Mäandrieren der Musik zu legen, und an solche Gestaltung kann sich der Dirigent an diesem Abend gar nicht erst zu denken erlauben - er muß den Bestand verwalten. Immerhin: Auch er hat ein Händchen für die Formung gelungener Details, wie die urplötzlich dann doch stehende Spannung im Schluß dieses Satzes beweist. Aber das war es dann leider auch fast mit der Herrlichkeit: Fürchterliche Nervosität in verschiedenen Teilen des Orchesters prägt das Geschehen im vierten Satz bis zu den Gesangseinsätzen. Leider machen es die vier Solisten nicht besser: Bassist Alban Lenzen liegt etwas neben der Ideallinie, Tenor Clemens C. Löschmann hat akustisch gar keine Chance gegen ein minimal besetztes zirkusartiges Orchester (und nach leichten Anfangsschwierigkeiten funktioniert diese Minibesetzung zur Abwechslung mal richtig gut!), und auch die Quartettbesetzung funktioniert überhaupt nicht, ist eher durch Tempouneinigkeit und ein ganz großes Durcheinander geprägt, zumal Sopranistin Bettina Jensen sich zum Schluß in die verlangten Höhen förmlich hinaufquälen muß. Der wahre Star dieses vierten Satzes steht auf der Orgelempore: Der Chor schwingt sich zu einer Klasseleistung auf, sowohl in den powervollen als auch in den transparenteren Passagen - was die Soprane da in "Über Sternen muß er wohnen" an Äther aus dem Orbit herunterpflücken, ohne gequält zu klingen, das nötigt allerhöchsten Respekt ab, und das Orchester läßt sich davon offenbar auch nochmal anstecken und überzeugt wenigstens im powervollen Schluß. Das verstellt dem (offensichtlich wenig konzerterfahrenen, da auch zwischen den Sinfoniesätzen klatschenden) Publikum dann offenbar ein wenig den Blick aufs Ganze, und so wird fleißig und ausdauernd applaudiert, gar mit Standing Ovations, wobei eine Portion Geschmackssicherheit doch nicht von der Hand zu weisen ist: Der Chor bekommt nämlich verdientermaßen den enthusiastischsten Applaus und die meisten Bravi. Auf dem Heimweg schmunzelt der Rezensent noch einmal, als sich ein an der Fußgängerampel am Roßplatz südlich des Gewandhauses wartendes Pärchen ironisch darüber unterhält, was für ein schweres Instrument Horn doch sei ...



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