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Leipziger Universitätsorchester   03.07.2010   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Sepp Blatter und seine Spielplanfunktionäre für die Fußball-WM 2010 dürften im Vorfeld dieses Konzertes zu Ehrenmitgliedern des Leipziger Universitätsorchesters ernannt worden sein: Mit dem Semesterabschlußkonzert an diesem Samstagabend kollidierte nämlich nicht das Viertelfinale unter deutscher Beteiligung (das begann vier Stunden vor dem Konzert und hätte auch im Falle eines Elfmeterschießens keine Kollisionsgefahr hervorgerufen), sondern das nicht ganz so bedeutende Spiel zwischen Spanien und Paraguay. Ergo dürfte der Füllstand des Großen Saales im Gewandhaus nicht nur anhand "Fußball interessiert mich sowieso nicht"-Personenmarken zu messen gewesen sein.
Nach dem Anpfiff gab das Orchester zunächst Beethovens Coriolan-Ouvertüre zum besten, agierte zunächst aber noch etwas zu statisch, als handele es sich hier um das Aufwärmprogramm. Dazu kamen einzelne Fehlpässe wie derjenige der Hörner, die gleich ihren ersten Ballkontakt versiebten. Aber das Rasenschach wich bald interessanten Strukturen, in die Trainer, äh, Dirigent Kiril Stankow eine Menge Unruhe hineinlegen ließ, passend zum Charakter des Schauspiels "Coriolan", für das die Ouvertüre eigentlich gedacht war, bevor sie sich wie viele andere Stücke dieser Bauart verselbständigte. Über den Kampf gelangte man zum Krieg und schließlich zum musikalisch klasse umgesetzten Suizid, nach welchem das schrittweise Aushauchen des Lebensatems noch einigen Holperern unterworfen war, bevor der Tod erreicht war, und dessen Spannung blieb enorm lange stehen. Ein versöhnlicher Schluß des ersten Programmteils.
Für das 1. Violinkonzert von Dmitri Schostakowitsch hatte das Orchester auf dem Transfermarkt gesucht und war in Polen fündig geworden: Izabela Kaldunska, gerade erst an der Schwelle ihres dritten Lebensjahrzehntes stehend, entpuppte sich schnell als herausragendes Talent. Und so geriet der "Nocturne" überschriebene erste Satz des Konzertes zum Meisterwerk: Finster grollten die Kontrabässe, eine sehr dunkel gefärbte Solovioline gesellte sich hinzu (passenderweise war die Solisten in ein langes Kleid in Dunkellila gehüllt), hier und da einige Ecken und Kanten im Spiel aufweisend, aber generell extrem stimmungsvoll. Da wollte das Orchester nicht nachstehen: Die Spannung rings um den ersten Paukeneinsatz hatte etwas fast Physisch-Bedrohendes, wurde vom erschütternden Satzschluß aber noch in den Schatten gestellt (was für Detailarbeit in den winzigen Aussetzern der Solovioline!). Das Scherzo an Satzposition 2 gilt gemeinhin als musikalisches Abbild des gemeingefährlichen Kulturfunktionärs Andrei Shdanow (dem Schostakowitsch in seinem "Antiformalistischen Rajok" als Genosse Dwoikin ein noch abstruseres Denkmal setzte). Daß Solovioline und Orchester hier quasi losgelöst voneinander arbeiten müssen wie Shdanow und das Volk, ist also Absicht, und diese machten Stankow, Kaldunska und das Orchester auch sehr plastisch deutlich, sowohl im kammermusikalisch angehauchten Einleitungsteil als auch häufig im Satzverlauf, den wie so oft bei Schostakowitsch ein Zirkusmarsch prägte. Auch das Überzeichnen des flotten Schlusses, der sich förmlich überschlug, war pure Absicht und perfekt vom Orchester umgesetzt. In der Passacaglia an Satzposition 3 marschierte dann der Präsident, äh, Tyrann selbst ein (mit Hörnern, Tiefstreichern und Pauken), alle verunsichernd, was den weiteren Spielverlauf angehen würde. Kleine Hoffnungspflänzchen verdorrten schnell und wichen einer perfekt umgesetzten Bedrückungsszenerie mit der Solovioline vor einzelnen Zupfern und Pauken, später noch gesteigert durch eine hochemotionale Hinführung zur Kadenz (Solovioline über leisen Teppichen von Kontrabässen und Pauken). Selbige Kadenz geriet zur Mixtur aus tiefer Trauer und extremen Energieschüben, der letzte Schub überleitend in den "Burlesque" überschriebenen vierten Satz, der nun wieder im hohen Tempo durch die Weiten rast. Hier und da bemerkte man ein wenig zuviel Unordnung im Orchester, auch Energiereserven nach oben blieben durchaus unangetastet, aber das war irgendwie egal: Der laute Applaus brach unmittelbar nach dem Schlußton los und war besonders angehörs des ersten Satzes mehr als gerechtfertigt. Merkwürdigerweise gab es keine Nachspielzeit, äh, Zugabe ...
Zur zweiten Halbzeit stand Edward Elgars 1. Sinfonie auf dem Platz, äh, Programm, in England als größte Erfindung seit dem geschnittenen Brot gehandelt - aber damit muß man bekanntlich vorsichtig sein. Diesmal versägte das Holz gleich den ersten Einsatz, dessen Wiederholung dann aber klappte. Hört man den Namen Elgar, denkt man automatisch an diesen einen der "Pomp and Circumstance"-Märsche, und ebenjenes Feeling waren Orchester und Dirigent dann auch im beginnenden Hauptteil des ersten Satzes abzurufen in der Lage, bevor der Rest des Satzes über weite Strecken im Rasenschach mit gelegentlichen Fehlpässen endete und nur der große Bombastausbruch vor den Einlagen der Solovioline herausragte wie ein Elfmeter, den Soloviolinistin/Mannschaftsärztin Muriel Stoppe gekonnt verwandelte. Irgendwie hatte man gegen Ende des Satzes das Gefühl, das Geschehen würde den Beteiligten entgleiten - das sollte sich erst im Allegro molto genannten Scherzosatz wieder legen: Fein ziseliertem Lärm mit intensivem und wohlgeformtem Schlagzeugeinsatz stand ein romantisch-vernebeltes Zweitthema gegenüber, das seinen Nebel auch über den kompletten Fortgang des Satzes deckte - englisches Wetter im Stadion, äh, Saal sozusagen. Selbst der satzeinleitende Marsch wurde bei seiner Wiederkehr gedämpft, und das attacca angeschlossene Adagio setzte diese Verwässerungsstrategie fort und klang daher wie ein vertontes Stück Seife mit einer Überraschung zum Schluß: einer zauberhaft eskapistischen Stimmung mit ultraleisen Posaunenteppichen (jawohl, das geht!). Das Lento am Beginn des vierten Satzes ließ Trainer, äh, Dirigent Stankow noch recht leichtfüßig umkurven (mit leichter Tendenz zur Ausfaserung), bevor der streicherdominierte Marsch einen Catenaccio aufzubauen begann, der sich schrittweise in ein Powerplay wandelte - raumgreifende Pässe, den Ball zum schnellsten Mitspieler machend, hebelten jede Abwehr aus. Nur der Schluß geriet wieder englisch, so wie Wildschweinbraten mit Pfefferminzsoße: Das Blech spielte große Bombastlinien, die Streicher verbreiteten wuselnde Hektik - diesen Knoten zu entwirren dauerte lange, und der Abpfiff kam irgendwie unvermittelt und plötzlich.
Verlängerung? Aber sicher - und der aufmerksame Besucher hatte schon in der Pause neben einigen Stühlen auf der Bühne schwarz-rot-goldende Vuvuzelas entdeckt. Gespielt wurde einer der "Pomp and Circumstance"-Märsche (nein, nicht der berühmte - den hätte man allenfalls spielen können, wenn England sechs Tage zuvor das Achtelfinale gegen Jogi Löws "Jugend forscht"-Truppe gewonnen hätte), allerdings mit einer locker eingefügten Ergänzung von zwei Notenzeilen "Don't Cry For Me, Argentina" als Reminiszenz an das 4:0 von Müller&Co. wenige Stunden zuvor gegen "die Hand Gottes". Und natürlich brach sich der Humor auch optisch Bahn: Eine Vuvuzela taugt auch als Verkleidung des Cellostachels und behindert nicht mal das Rotationsprinzip des Instrumentes, ein Tubatrichter kann durchaus beflaggt werden, und ansonsten sah man noch Mützen, Trikots und zahlreiche schwarz-rot-goldene Mini-Girlanden. Dazu traten sportliche Aktivitäten wie eine La-Ola-Welle (während des Spielens wohlgemerkt), die bekannten rotierenden Celli und als besondere Einlage eine Auszieh- und Aufwärmübung der Hornisten, als diese mal nicht zu spielen hatten. Die anderen Blechbläser setzten mit der Übernahme des Schlußtones durch Vuvuzelas den letzten Elfmeter ins Netz und entließen ein gutgelauntes Publikum aus dem Stadion, äh, Gewandhaus zu den Public Viewing-Stationen, um noch den Schlußpfiff des Arbeitssieges der Spanier gegen ihre Ex-Kolonie Paraguay mitzubekommen.



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