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10. Sinfoniekonzert   03.06.2010   Chemnitz, Stadthalle
von rls

"Ohne Holland fahr'n wir zur WM", heißt ein gern intonierter Schlachtgesang deutscher Fußballanhänger. Die Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz stößt an diesem Abend in ein völlig anders gestimmtes Horn, denn gleich zwei spielentscheidende Positionen des 10. und saisonabschließenden Sinfoniekonzertes sind mit Oranje-Jüngern besetzt (für Südafrika sind die Niederländer ja immerhin auch qualifiziert und dort recht weit gekommen ...). Dabei sieht man den Dirigenten Otto Tausk in der ersten Hälfte hinter dem hochgeklappten Flügeldeckel von Hans Eijsackers' Arbeitsgerät kaum, aber das ist die Publikumsperspektive, nicht die des Orchesters. Daran kann's also nicht liegen, daß im 1. Klavierkonzert von Johannes Brahms vieles leider im Abseits landet. Das geht gleich im einleitenden düsteren Part los, wo die wie ein Sturmangriff grollenden Kontrabässe überhaupt keine Bindung zum Spiel der restlichen Mannschaft finden und erst nach Zurückschaltung auf kontrollierte Offensive so etwas wie Transparenz ins Spiel kommt. Diese Tugend versuchen alle Beteiligten dann weiterhin zu pflegen, was ihnen mal besser, mal schlechter gelingt. Exempel: Die Flöte übernimmt nach einem langen Klavierpart zu holprig, aber danach gelingt eine schöne raumgreifende Kombination über den ganzen Platz hinweg. Der Pianist spielt herrlich perlende Läufe mit Überkreuzgriffen, das Orchester legt einen klasse Groove drunter - und prompt kommen die zwei entscheidenden Pässe in die Spitze, also die gemeinsamen Einsätze des Klaviersolisten und des Tuttiorchesters, nicht an. Letzteres Problem zieht sich leider längere Zeit hin, auch der Abpfiff des ersten Satzes sieht diesbezüglich eine Inhomogenität, was wirklich gelungene Momente wie die gekonnten Fernwirkungen der Hörner (obwohl die Spieler auf der Bühne sitzenbleiben!) nicht wirklich kompensieren können. Zur Behebung eines Problems der anderen Art muß gelegentlich der Chemnitzer Platzwart schreiten (er hat ja jetzt in der Saisonpause Zeit dazu): Die Klimaanlage der Stadthalle gibt ein relativ lautes Grundrauschen von sich - und das ist gerade im zweiten Satz tödlich, indem man sich in den eskapistisch-sanften Klavierpassagen (derer es recht viele gibt) immer irgendwie latent gestört fühlt. Immerhin genügt die Aufmerksamkeit, um eine deutliche Verbesserung des Zusammenspiels zu konstatieren; Tausk läßt das Tempo ziemlich stark verschleppen, und das paßt prinzipiell auch zur Stimmung, wenngleich es gegen den Abpfiff dieses Drittels hin doch ein wenig selbstquälerische Ausmaße annimmt. Dem setzt der dritte Satz, fast ohne Drittelpause angeschlossen, eine erfreuliche Lockerheit entgegen, ohne in Überschallgeschwindigkeit oder blinde Raserei abzukippen. Auch hier klappt das Zusammenspiel größtenteils, auch im Mikrobereich, wenn sich der klavierführende Regisseur und der Rest der Mannschaft fast unmerklich gegenseitig beeinflussen. Überhaupt fällt auf, daß das Klavier bis auf wenige Momente immer gut wahrnehmbar bleibt, was ja keinesfalls selbstverständlich ist. Der Soloauftritt Eijsackers', also die Kadenz, bleibt zwar recht unauffällig, aber in der nächsten Orchesterpassage läuft der Ball wie geschmiert, und das bleibt mit Ausnahme von ein, zwei Ballverlusten auch bis zum Schlußpfiff so. Das Publikum, wohl die eher mäßigen vorderen Drittel noch im Gedächtnis bewahrend, spendet annehmbaren, aber keineswegs enthusiastischen Applaus, und so kommt die Zugabe schon im zweiten Vorhang: ein besonders im Schlußteil enorm emotionaler Bach (Sarabande aus der Partita e-Moll), nach dem der Applaus fast stärker ist als nach dem Normalprogramm.
Weg vom Fußball und hin zu einem russischen Karneval: Igor Strawinskys "Petruschka"-Ballettmusik steht in der vom Komponisten selbst arrangierten 1947er Orchesterfassung auf dem Programm. Hier entpuppt sich Dirigent Tausk plötzlich als Tempofetischist, was man anhand des Brahms-Konzertes nicht unbedingt hatte vermuten könnten. Ins mehrfach zu hörende Jahrmarktgewusel legt er jedenfalls ein enorm hohes Tempo, aber dafür nicht mehr Struktur als unbedingt nötig. Freilich hilft selbst sein Hüftschwung im Drehorgelthema nicht - es kommt viel zu trocken aus dem Orchester geflogen. Allerdings beweist Tausk in der Folge, daß er durchaus ein gutes Händchen für die Strukturmodellierung dieses Stückes besitzt: Die Brüche, derer es viele gibt, sind deutlich als solche zu erkennen, hinterlassen aber keinen zerrissenen Eindruck. Auch viele Details überzeugen, etwa das herrlich trocken flatulierende Kontrafagott in den Gauklerszenen, der äußerst speedige Russische Tanz oder das abgrundtiefe Cellogesäge. Ein bißchen Anlaufzeit braucht die Solotrompete, die viel zu tun hat und im ersten Mohr-Thema noch zu unsauber und nervös klingt, sich allerdings schnell steigert. Den gestörten Charakter des Ballerinatanzes arbeiten Dirigent und Orchester deutlich heraus, der Ammentanz erzeugt ein mittelschweres Erdbeben, der Tanzbär stammt in der Version dieses Abends aus Kamtschatka (dort gibt es nämlich die größten Bären in ganz Rußland), auch von den tanzenden Kutschern sind offensichtlich recht viele anwesend, und der plötzliche Wechsel der Jahrmarkt- in eine unheimliche Geisterstimmung mit Fernwirkungstrompeten als Petruschka-Geist gelingt tadellos. Diesen Schluß muß das Publikum einen Moment verdauen, der Applaus brandet langsam auf, aber er steigert sich, und auch einzelne Bravi mischen sich darunter. Zwei strukturelle Momente schließen den Abend ab. Zum einen wird Hans-Hermann Schmidt nach 40 Jahren Orchesterdienst in den zweiten Violinen in den Ruhestand verabschiedet (er hat jetzt also etwas mehr Zeit für seine zahlreichen Nebenbeschäftigungen, z.B. die musikgeschichtliche Forschung oder das Organisieren von Benefizkonzerten), und zum anderen schließt eine Party die Orchesterkonzertsaison 2009/2010 in Chemnitz ab.



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