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Dennis Russell Davies   11.04.2010   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Keine programmatische Überschrift diesmal - das hat man in den Konzerten des MDR Sinfonieorchesters auch eher selten. Statt dessen prangt der Name des Dirigenten an der betreffenden Stelle: Dennis Russell Davies steht am Pult und hat auf dieses zuerst die Schrumpf-Symphonie von Kurt Schwertsik gelegt. Dieser folgt nicht dem Motto des "Schachproblems als in wenigen Zügen verdichtete Katastrophe der Partie" - die vier Satzminiaturen, die nur etwa fünf Minuten dauern (alle vier zusammen wohlgemerkt, nicht etwa einzeln!), machen keinen sonderlich verdichteten Eindruck, sondern eher den eines Schnipsels aus einem größeren Ganzen, das aber unerklungen bleibt. Schwertsik, geboren 1935, bleibt durchgängig im tonalen Bereich und verarbeitet einige witzige Einfälle, die das Werk zwar nicht epochal machen und die man nach dem Hören auch schnell wieder vergessen hat, die aber den Moment des Hörens durchaus kurzweilig gestalten. Der 1. Satz "Allegro con brio" jedenfalls erinnert an die Zeiten, als Haydn und Mozart die Gattung der Sinfonie schrittweise auszubauen begannen, der 2. "Moderato alla marcia" hätte auch aus einer slawischen Märchenoper stammen können, der 3. "Poco allegretto ma molto dolce" ist ein romantisches Adagio mit deutschem Wald im Morgennebel und einer vogelimitierenden Piccoloflöte, und der letzte "Avanti, avanti: presto vivace" kommt mit seiner Mixtur "Schostakowitsch auf wienerisch" im 20. Jahrhundert an, bevor ein Codawitz die fünf Minuten abschließt.
Für Joseph Haydns Violoncello-Konzert D-Dur kommt der Cellist Thomas Demenga auf die Bühne und plaziert sich auf einem Podest links neben dem Dirigentenpult. Da er eh schon ein Riese von Gestalt ist, der Dirigent aber zu den eher kleinwüchsigen Menschen zählt, hat letztgenannter somit alle Mühe, am Solisten vorbei die ersten Violinen im Blick zu behalten. Das Positive dieses Kuriosums: Es hat aufs Orchestermiteinander keinen störenden Einfluß - im Gegenteil: Die Teppichbildung für den Solisten funktioniert tadellos, und dieser kann sich auf die Ausgestaltung seiner Stimme konzentrieren. Das tut er in einem selbst in härter zupackenden Passagen noch schwebenden, fast singenden Ton und mit einer überirdischen Leichtigkeit, die nur in einigen etwas zu hektisch anmutenden Verzierungen etwas geerdet wird. Das Allegro moderato bleibt temposeitig auch tatsächlich moderat, Demengas durchdringender Ton dominiert, und er spielt seine eigenen Kadenzen, hier im ersten Satz eine lange, melodische und teils immens spannende. Spannung liegt auch im schleppend genommenen, aber trotzdem der Leichtigkeit nicht entbehrenden Adagio; die Musiker streicheln ihre Instrumente bisweilen nur, und nur einmal verschärft der Komponist plötzlich das Tempo, als wolle er in das abschließende Allegro-Rondo hinüberblicken. Auch hier bleibt selbst in wildem Cellogefrickel ein entspannter Grundton erhalten, der tänzerische Grundbeat gelingt in lässiger Handgelenkschüttel-Lockerheit, und die Kadenz ist diesmal nicht komplett solistisch, sondern wird von einem Orchesterteppich untermalt. Das Publikum im so gut wie gefüllten Gewandhaus zeigt sich zufrieden, und Demenga bedankt sich mit einer Zugabe, der siebenten Etüde von Jean-Louis Duport, deren Speed er genauso leise und locker aus dem Handgelenk schüttelt wie manche Passage zuvor.
Nach der Pause staunt mancher Hörer Bauklötze, denn die "Locker und transparent"-Strategie behält Dennis Russell Davies auch in Anton Bruckners 4. Sinfonie zunächst bei. Die gibt es an diesem Abend in der 1874er Urfassung zu hören, wobei sich die globalsten Unterschiede in den beiden hinteren Sätzen breitmachen. Zunächst nämlich dominiert Waldidylle (Bruckner nannte die Sinfonie ja auch die "Romantische"), bevor der Dirigent zu arbeiten und zu schichten beginnt. In der Struktur "verklingende Violinen - Generalpause - Tutti" lotet er die maximale Distanz aus, ohne den Bruch aber überzubetonen, während er in den Tiefstreichersolopart eine beeindruckende Ruhe legt. Später kommen Powerschichtungen dazu, nicht blockhaft, sondern wie aus dem Ganzen gegossen, also wie eine schiefe Ebene wirkend. Auch die Balance des Blechs zum Rest stimmt (das hat man an gleicher Stelle auch schon problematischer gehört), und ein massiver Schluß beendet den "Bewegt, nicht zu schnell" überschriebenen ersten Satz. Das eingangs erwähnte Staunen geht auch im Andante quasi Allegretto an zweiter Satzposition weiter, hier über die Leichtfüßigkeit und die Fertigkeit, auch in kleinteiligen Strukturen immer den großen Bogen zu bewahren. Der Grundbeat bleibt auch im Tutti schleppend, selbst wenn die Kontrabässe mal einen fordernden Rhythmus einzustreuen haben, und nach hinten heraus gelingt hier wieder so eine schleichend-unmerkliche Steigerung als riesige Linie im Ganzen. Aber schon im Laufe dieses Satzes haben die Hörner eine Art Wende angedeutet, die sich dann mit dem Scherzo breitzumachen beginnt: Sie schneiden ihre Töne nach hinten ab und erzeugen damit mehr Struktur, mehr Blöcke, mehr Brüche, was sich dann als neue Strategie für die beiden hinteren Sätze entpuppt. Freilich: Der Dirigent läßt auch hier trotz hohen Tempos und diverser Tutti-Infernos keine Hektik aufkommen, alles entwickelt sich logisch - zunächst jedenfalls. Das Trio bleibt unauffällig, die Wiederholung des ersten Scherzoteils aber atmet hörbar mehr Unruhe, woraus sich dann im letzten Satz doch das gewohnte Monumentalbild zu formen beginnt. Durch den deutschen Wald des Nebenthemas hastet folglich eine Ameisenkolonne, die absteigenden Oktaven erhalten eine bisher nicht gekannte Messerschärfe, die Unisoni stehen wie aus Stein gemeißelt - da stört es nicht entscheidend, wenn die zahllosen Verrenkungen ebenjene große Linie, die man vor allem in den ersten beiden Sätzen schätzenlernte, hier entbehren müssen. Mittlerweile ist das Orchester auch bei einer solchen Power angelangt, daß die Schlußsteigerung nur noch über einen Tick mehr Blech zu meistern ist - die damit einhergehende Übertöngefahr umschiffen die Beteiligten aber gekonnt. Der Dirigent legt zum Oktavwechsel noch einen Hüftschwung hin, und der Bombastschluß endet plötzlich im Mehr-oder-weniger-Nichts - wenn es eine Stelle gab, die noch etwas Feilung seitens des Komponisten hätte vertragen können, dann vielleicht diese (er hat's nun wieder übertrieben und teils ganz neue Sätze komponiert). Das Publikum jedenfalls ist wieder äußerst zufrieden, und der Dirigent macht ganz zum Schluß die Relationen klar: Er verbeugt sich einmal vor dem Publikum, aber zweimal vor dem Orchester.



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