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Pathétique   21.02.2010   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Eine estnische Dirigentin mit sowjetischer, polnischer und russischer Musik, also von nicht immer so ganz unproblematischen direkten oder indirekten Nachbarn - das hätte eine gewisse Sprengkraft in die Kombination legen können. Aber die junge Generation, zu der die blonde, drahtig wirkende und auch so dirigierende Anu Tali gehört, steht weitgehend über solchen Dingen, ist internationales Denken gewöhnt - und das Ergebnis spricht denn auch für sich.
Wer oben über den Begriff "sowjetische Musik" gestolpert sein sollte: Ja, Dmitri Schostakowitschs "Festliche Ouvertüre" ist per definitionem sowjetische Musik, ein Gelegenheitswerk, als für die Festlichkeiten zum 37. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution anno 1954 mal eben schnell ein solches Werk gebraucht wurde. Daß selbst ein solcher Schnellschuß kompositorisch auf außerordentlich hohem Niveau stehen kann, zeigt die Klasse Schostakowitschs, und "schnell" ist auch ein gutes Wort für die Interpretation Anu Talis: Sie hetzt das MDR Sinfonieorchester förmlich durch das Stück, aber dieses folgt willig, gar fröhlich. Das fanfarenartige Intro atmet zumindest noch etwas Festlichkeit, aber dann geht's schnell in irrem Tempo zur Sache, bisweilen auch (ein Kennzeichen Schostakowitschs) leicht zirkusartig wirkend. Die speedigen Soli der Holzbläser atmen dagegen eher olympisches Feuer des "Schneller, höher, weiter"-Prinzips - Teile der Ouvertüre dienten 1980 bei den Moskauer Sommerspielen als Signaturthema, und einen kleinen Seitenblick nach Vancouver hatte die Programmplanungsfraktion vielleicht auch im Hinterkopf gehabt. Daß ausgerechnet die schrillen Flöten strukturdeterminierend für das ganze Stück wirken, selbst im feierlichen Vorschlußteil, zeigt erneut, daß der Komponist keineswegs exakt an die Staatsräson angepaßt war. Kurz vor Ende verlieren die Celli in den rasenden Parts für einen Moment die Kontrolle, aber die blonde Dirigentin hat die Lage schnell wieder im Griff.
Mit Fryderyk Chopin ist anno 2010 ein Musiker mit einem großen Gedenktag (200. Geburtstag) dran, den man nicht unbedingt unter die Orchesterkomponisten rechnen würde, aber ganz ferngehalten hat er sich von diesem Areal auch nicht. An diesem Abend erklingt sein Klavierkonzert e-Moll, von der Werkzählung her das erste, in der Kompositionschronologie aber erst nach dem später veröffentlichten f-Moll-Konzert entstanden. Warum sich das Konzert weniger ins Hirn der Nachwelt eingebrannt hat als die Instrumentalkonzerte manches Zeitgenossen oder Generationenfolger Chopins, scheint nach dem ersten Satz klar zu sein, denn eigentlich passiert hier herzlich wenig. So etwas wie Dramatik kommt nur einmal auf, vielleicht zweimal, wenn man das große tiefendominierte Streichergeschwelge vor dem zweiten Klaviereinsatz mitrechnet. Dafür kann Pianist Dejan Lazic nun nichts - in den wenigen Momenten, wo Chopin ihm aufgibt, sich mit dem Orchester abzustimmen, gibt es, von kleinen Differenzen in den Dialogen mit dem Horn abgesehen, nichts zu deuteln. Das Orchester ist anfangs eher aufgeregt, mal herrscht etwas Unordnung, die Flöten haken leicht, aber die epische Breite ohne große Brechungen beginnt sich noch vor dem ersten Klaviereinsatz einzustellen. Die Seltsamkeit der Kompositorik bemerkt man am deutlichsten im Schluß dieses Allegro maestoso: Alles plätschert vor sich hin, Chopin klebt einen kurzen Powerschluß aus wenigen Takten an, und das war's. So richtig befriedigt das nicht - ganz im Gegensatz zum Larghetto an zweiter Satzposition. Lazics flüssiges Klavierspiel bekommt hier nämlich stellenweise einen fast entrückten Ton, die Streicher haben ihm mit einem sehr gelungenen Pianissimo-Einsatz den Weg bereitet, und eine große Linie zieht sich durch den ersten Teil dieses Satzes. Der zweite Teil hat einen Tick zuviel Unruhe intus, ist aber trotzdem noch klasse, und ein überraschendes Klavierbreak leitet zum dritten Teil über, in dessen Intro und Outro man die Spannung fast mit Händen greifen könnte. Nahezu attacca folgt der dritte Satz, ein Rondo, das nach kurzem finsterem Streichergesäge lockerer wird. Hier wird deutlich, daß Lazic, Tali und das Orchester im Feintuning ganze Arbeit geleistet haben - ein Sack voll teils blitzartiger Tempovariationen macht Präzisionsarbeit nötig, und die bekommt man auch zu hören (beeindruckend beispielsweise die Tightness von Klavier und gezupften Streichern in einer Passage, die ebensoschnell verflogen ist, wie sie um die Ecke gesaust kam). Da vergißt man fast, daß es auch diesem Satz an großer kompositorischer Entwicklung gebricht, was der angeklebte Schluß am allerdeutlichsten macht. Trotzdem gibt es verdienten und lauten Applaus, den Lazic mit einem erst posthum veröffentlichten Chopin-Walzer (auch sehr tempovariierend) beantwortet. "Von dem könnte man sich auch einen ganzen Klavierabend anhören", meint der Herr zwei Plätze links neben dem Rezensenten beeindruckt, und er hat wohl recht.
Der Titel des Konzertes bezieht sich auf den zweiten Teil, denn in diesem erklingt Peter Tschaikowskis sechste und letzte Sinfonie, welchselbiger der Beiname "Pathétique" gegeben worden war. Die freilich ist nicht nur pathetisch, sondern in erster Linie düster (der Komponist starb zehn Tage nach der von ihm selbst geleiteten Uraufführung, wobei man sich nicht ganz sicher ist, ob er das schon vorher wußte oder ahnte), allerdings sabotiert eine ganze Kohorte an Hustern die finstere Stimmung der Einleitung des eröffnenden Adagios nachhaltig. Freilich nicht für lange, denn Tali entfesselt immer mehr Kräfte des Orchesters, die große Steigerung beim ersten Blecheinsatz sitzt maßgeschneidert, und die Celli verdienen sich für die geplante Umsetzung von Nervosität ein Sonderlob. Überhaupt die Tiefstreicher: Sie dominieren weite Teile der Sinfonie, allein acht Kontrabässe sind besetzt, und was die Tiefstreicher nach dem Fast-Stillstand zusammensägen, erinnert in positivster Manier an Apocalyptica. Zudem fordert Tschaikowski dem Pauker den wohl längsten ununterbrochenen Wirbel der Orchestergeschichte ab, über den das Orchester alles von finsterstem Doom bis zu wildestem Gesäge legt. Nur das Blech erwischt im Schlußteil des mittlerweile in ein Allegro non troppo übergegangenen Satzes einen rabenschwarzen Tag. Die Trompeter versemmeln ihren Choraleinsatz über den Pizzikatostreichern, die Hörner solidarisieren sich mit ihnen, und was die Posaunen im Schlußton abliefern, reißt den Herrn zwei Plätze links neben dem Rezensenten zu der Bemerkung "Na, das gibt Dresche ..." hin. Im zweiten Satz, einem Allegro con grazia, hat der Wahnsinn wiederum Methode: Die perfekt gespielte gequälte Lockerheit weist stilistisch schon auf Schostakowitsch voraus, und im dritten Satz, einem Allegro molto vivace, steigert sich das gar noch: Die Streicher flackern, es kommt dieser leicht zirkusartige Touch zum Tragen, den man bei Schostakowitsch später noch ausgeprägter wiederfinden sollte, alles wirkt gehetzt, und die große Trommel schlägt immer dann zu, wenn man einen Nackenschlag gerade am wenigsten gebrauchen konnte. Tali und das Orchester meistern diese Herausforderung mit großem Können und setzen den scheinbaren Triumphmarsch, die klassische Finalstruktur dieses Satzes derart prägnant in Szene, daß ein Teil des Publikums nach diesem Satz tatsächlich zu applaudieren beginnt, weil es glaubt, die Sinfonie sei zu Ende. (Dieses Phänomen ist bei konzertungewohntem Publikum öfter zu beobachten, aber das im fast komplett gefüllten Gewandhaus macht nicht den Eindruck, als ob es zu dieser Kategorie gehöre.) Aber der vierte Satz, ein Adagio lamentoso, fehlt noch. Dessen schleppender Beginn fällt noch nicht ganz hoffnungslos aus, aber die Fagotte beginnen Trübsal zu blasen, und für die Auslöschung eines kurzen Energieaufflackerns reicht schon eine von zahlreichen Generalpausen durchsetzte Struktur, und die verzerrten Hörner lärmen mit beeindruckender Apokalyptizität. Zwar versemmeln die Posaunen noch einmal einen Choraleinsatz, aber der Choral selbst verdunkelt die Stimmung weiter, und Celli und Bässe klappen (wenngleich nicht hundertprozentig paßgenau) den Sargdeckel endgültig zu. Die Spannung steht aufgrund der Hustfraktion und eines übereifrigen Applaudierenden auf der Orgelempore nicht so lange, wie das wünschenswert gewesen wäre, aber der befreiende und hochverdiente Applaus fällt umso herzlicher aus. Die blonde Dirigentin verteilt noch Küßchen ins gesamte Orchester und verabschiedet sich vom immer noch ausdauernd klatschenden Publikum mit einer international verständlichen Geste, daß sie jetzt schlafen gehen wolle.



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