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Faschingskonzert   16.02.2010   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Daß MDR-Chordirektor Howard Arman dem Affen gern eine Portion Zucker gibt, ist bekannt, und dieser Passion konnte er beim Faschingskonzert des MDR Sinfonieorchesters natürlich in ganz besonderem Maße frönen. Allerdings holte er sich einen Moderator an Bord, nämlich Axel Köhler, den frischgebackenen Hallenser Operndirektor, der freilich schnell deutlich machte, daß mit ihm kein Sinken des Humorpegels zu befürchten war, als er das Publikum "daheim an den Hörgeräten" begrüßte. Das Konzert wurde radiologisch live bei MDR Figaro übertragen, allerdings entging den dadurch erreichten Menschen logischerweise der optische Teil des Humorfaktors, der sich bereits in den Kostümen manifestierte: Der MDR hatte eine Eintrittsermäßigung für alle Zuschauer, die im Faschingskostüm erscheinen würden, ausgelobt, und einige nahmen die Chance auch wahr, so daß man vom Sträfling bis zu Biene Maja eine breite Palette sah (der Rezensent hatte dämlicherweise seine Sturmhaube und seinen Teleskopstock vergessen und ging daher im Kostüm des Individualisten, also gar nicht verkleidet); auch einige Orchestermitglieder erschienen mit roten Stoffrosen, mit Perücken oder (die Fagottisten!) schwarzen hohen, spitzen Alchemistenhüten.
Das Programm (ohne Pause durchgespielt) entsprach dem Anlaß und mixte zeitlose Komödiantik mit klassischer Karnevalsthematik. Den Opener bildete "A Grand, Grand Ouverture" des Briten Malcolm Arnold, geschrieben für eine seltene Besetzung: drei Staubsauger, Bohnermaschine und Sinfonieorchester. Für die erstgenannten vier Instrumente hatte man namhafte Solisten verpflichtet: Thomaskantor Georg Christoph Biller bediente die Bohnermaschine so hingebungsvoll, daß sie nach dem halben Stück auseinanderfiel, und Cheryl Shepard (Baßstaubsauger, sonst in der Fernsehserie "In aller Freundschaft" operierend), Silvio Zschage (96er-Stradivari-Tenorstaubsauger, sonst Moderator bei MDR 1 Radio Sachsen) und Andreas Fritsch (Altstaubsauger, sonst im MDR-Fernsehen "Wir ab vier" moderierend) versuchten ihre Instrumente so virtuos zu bedienen, daß das Chaos hinterher zumindest nicht größer war als vorher. Das Stück entpuppte sich musikalisch aber als weniger witzig, als man anhand der Beschreibung und des Brimboriums vorher erhofft hatte - eine Bombastouvertüre mit Orgel, die streckenweise eben durch Staubsaugergeräusche unterbrochen wird. Akustische Miteinandereffekte blieben leider aus, was an den relativ leisen Geräuschen der modernen Staubsauger gelegen haben mag, die an den wenigen Stellen, wo sie gegen das volle Orchester anzukämpfen hatten, akustisch hoffnungslos unterlegen waren. Vielleicht hätte das Stück auf historischen Instrumenten, also mit englischen Staubsaugern von 1956, besser gewirkt.
Als weitere Gäste hatte Arman das Ballett, den Chor und einige Solisten der Musikalischen Komödie eingeladen. Nun sind diese Sänger es aber gewöhnt, mit Mikrofon zu singen, hier dagegen fiel diese Möglichkeit weg, und so hatte der Chor im Finale II aus der Johann-Strauß-Sohn-Operette "Eine Nacht in Venedig" gegen das schon nicht überlaute Orchester akustisch wenig zu melden. Das riß das Orchester in Johann Strauß Vaters "Der Karneval in Venedig"-Fantasie wieder heraus. Dessen Mittelteil bestand nämlich aus Variationen über "Mein Hut, der hat drei Ecken", in dem sich die verschiedenen Soloinstrumente, wohl inspiriert von den gleichzeitig laufenden Olympischen Winterspielen in Vancouver, zu duellieren begannen, was die Unterbringung von möglichst vielen Noten oder möglichst abgefahrener Spieltechniken im Solospot anging; Arman verließ gelegentlich sein Dirigentenpult, um den Besten zwar keine Medaillen, aber Blumen zu überreichen, während das Orchester ohne ihn weiterspielte. Das erzeugte Lachstürme im Publikum, welches hernach durch die elegante Pizzikato-Polka (eine Gemeinschaftskomposition von Johann Strauß Sohn und seinem Bruder Josef) samt vierköpfiger Balletteinlage wieder etwas geerdet wurde. Im Finale des Divertissiments für Kammerorchester von Jacques Ibert waren die musikgeschichtlichen Kenntnisse des Publikums gefragt (ein atonaler Beginn, ein Cancan und Trillerpfeifen bildeten Stützen des Werkes). Zwei neapolitanische Volkslieder in Bearbeitungen von Howard Arman wurden von den 3 Tenören vorgetragen - den 3 Tenören aus der Musikalischen Komödie, die allerdings dem Vernehmen nach erst so spät eingetroffen waren, daß sie es noch nicht geschafft hatten, sich komplett umzuziehen, und daher das erste Lied in Unterhosen schmetterten, sich aber eher auf einen kleinen Sängerkrieg nach dem Exzelsiorprinzip konzentrierten (und die akustischen Vernehmbarkeitsprobleme reproduzierten). Danach wieder eine Erdung: Carl Michael Ziehrers Faschingskinder-Walzer kam ohne Klamauk aus - ein elegantes Tanzstück, locker, aber ernsthaft. Den Höllengalopp aus Jacques Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt" nahm das Orchester in wahrhaft teuflischem Tempo, die je sechs dazu tanzenden Damen und Herren erschienen in weinroten und schulterfreien Kostümen, wobei die Damen gelegentlich noch so kreischten, als habe sie der Leibhaftige an Stellen gepackt, wo sie das weniger lustig finden. Danach war es Zeit für eine musikhistorische Entdeckung, nämlich den "Barrabam"-Chor von Heinrich Ignaz Viktor Stolter aus dessen verschollener Matthäuspassion. Stolter hat mit seinem Kollegen P.D.Q. Bach das Schicksal gemeinsam, daß seine Werke später mannigfach plagiiert wurden - der "Barrabam"-Chor, dessen Lyrik einzig und allein aus 427maliger Aussprache des titelgebenden Wortes besteht, wurde später von Gioacchino Rossini als "Wilhelm Tell"-Ouvertüre zweitverwertet. Für die immens schwierige Aussprache des Wortes in hoher Geschwindigkeit verdiente sich der Chor hier ein Sonderlob. Zu Leroy Andersons "The Typewriter" kamen vier "Sekretärinnen" als Gastmusikerinnen auf die Bühne, um die Schreibmaschinenklänge (die deutlich zu vernehmen, da offensichtlich elektronisch verstärkt waren) zu erzeugen und damit zu beweisen, daß sie mit diesen Instrumenten ähnlich professionell umgehen können wie mit Staubsauger und Bohnermaschine. Nachdem Axel Köhler in der Rahmenhandlung des Konzertes erfolgreich die Primadonna Iva Mihanovic vergrault hatte, mußte er das Duett "Surabaya-Johnny" von Kurt Weill, begleitet von Arman am Klavier, alleine singen - für einen Countertenor mit Baritonerfahrung allerdings keine sonderlich schwierige Aufgabe. Die letzte Nummer im Programm kam dann wieder ohne Klamauk aus - das Finale II aus Franz Lehárs Operette "Der Zarewitsch" blieb in strenger ABA-Form mit dramatischen Außenteilen und einem romantischen Mittelteil incl. schöner Dialoge zwischen Holzbläsern und Celli; das Chorfinale schloß das reguläre Konzert ab. Da das Publikum im bis auf die Orgelempore gefüllten Gewandhaus selbstredend nach einer Zugabe verlangte, bekam es die mit einer Wiederholung von Offenbachs Höllengalopp auch, hier noch durch Chorvokalisen ersetzt, wobei sich der Chor rätselhafterweise um den hohen Sprung im Schlußteil des Hauptthemas drückte. Gute Unterhaltung!



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