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Leipziger Universitätsorchester   30.01.2010   Leipzig, Gewandhaus
von rls

An Universitäten angebundene Sinfonieorchester, deren Mitglieder keine Musikstudenten sind, sondern allen möglichen anderen Studiengängen von Germanistik bis Medizin angehören, gibt es ja eine ganze Anzahl, und manche von ihnen besitzen schon eine jahrzehntelange Tradition. In Leipzig kann man noch nicht ganz so weit zurückblicken - der heute als Leipziger Universitätsorchester firmierende und auch offiziell in die Universitätsmusik eingebundene Klangkörper ist ein Kind des 21. Jahrhunderts, bemerkenswerterweise fast komplett in studentischer Selbstverwaltung stehend und sich im Spätwinter 2010 sogar an die Organisation einer Auslandsreise heranwagend. Das Programm für diese Tour nach Süddeutschland und Italien bildet zugleich dasjenige des Konzerts an diesem Abend in einem sehr ordentlich gefüllten Großen Saal des Gewandhauses, nachdem es zwei Tage vorher bereits in Halle erklungen ist.
Den Auftakt bildet die Ouvertüre zu Richard Wagners Oper "Der fliegende Holländer", in der sich die Studenten offensichtlich noch ein wenig warmspielen müssen. Zwar sitzt der Bombast zu Beginn und Schluß recht paßgenau, aber vor allem die Einsätze nach den diversen Generalpausen wackeln teilweise noch bedenklich, und eine Flöte gönnt sich einen Komplettaussetzer. Dafür überzeugen die kompetenten Hörner, während der Rest des Blechs hier und da durchaus noch ein wenig stärker aus sich herausgehen könnte. Über den gesamten Mittelteil legt sich nämlich ein gewisser Schleier der Undifferenziertheit, den erst der erwähnte Bombastschluß konsequent wegzieht. Das ist in der Gesamtbilanz nicht schlecht, läßt aber doch noch den einen oder anderen Wunsch offen.
Das Wagner-Warmspielen scheint den Musikern gut getan zu haben, wie man in der recht zerrissenen Struktur des Violakonzertes von Bela Bartók bemerkt, denn die zimmern die Studenten samt Dirigent Kiril Stankow mit achtbarer Paßgenauigkeit. Kurioserweise dauert es einen halben Satz lang, bis Bartók zum ersten Mal die Aufgabe erteilt, daß Orchester und Solist richtig miteinander zu arbeiten haben. Zunächst spielt Solist Yuri Bondarew nämlich ein ausgedehntes Viola-Intro, in das die Orchestermusiker nur gelegentlich den einen oder anderen Stützakkord einzuwerfen haben, und auch danach geht es eher distanziert zur Sache bis zu einer kurzen Passage mit interessanter Struktur: Der Solist spielt kurze Passagen mit je einem Schlußquietscher, das Orchester antwortet mit noch kürzeren Mollakkordeinwürfen. Das erste Tutti setzt Bartók erstaunlich spät, die Trompeten entfalten Signalwirkung, eine Art Fernorchesterwirkung entsteht, und wieder mal klingen eingeworfene Mollakkorde wie ein großer Zahnarztbohrer kurz vorm Steckenbleiben. Ein Sonderlob verdienen sich Orchester und Dirigent durch den ansatzlosen Übergang des Fagottsolos in die folgende Streicherfläche - das kriegt auch nicht jedes Profiorchester so flüssig hin. Überhaupt die Streicherflächen: Im Adagio arbeitet Bartók recht häufig mit denen, und diese Teppiche mit großer Orchesterbesetzung derart zart auszurollen ist gleichfalls Profiniveau ohne Wenn und Aber. Die lebendige Flöte konterkariert sowohl die Flächen als auch den häufig "singenden", leicht melancholischen Ton der Soloviola, und eine herunterfallende Garderobenmarke im Publikum macht diese Aufführung einzigartig: Das Geräusch trifft genau in eine Pause und entwickelt dort einen perkussiven Effekt, als hätte Bartók dort einen kleinen Schlagzeugwirbel plaziert. Im dritten Satz schaltet der Komponist auf eine Art theoretisch tanzbaren Speedfolk um - selbst im amerikanischen Exil kommt immer wieder der Ungar durch, und auch sein Landsmann Tibor Serly, der das in der Grundstruktur vorliegende Konzert nach Bartóks Tod komplettierte, hat an dieser Grundhaltung nichts geändert. Powernde Ausbrüche paaren sich mit schrägen gedämpften Bläserklängen, die schnelle Grundgeschwindigkeit bleibt auch in den schlanker besetzten, quasi eleganteren Passagen erhalten, und der witzige Schluß rundet ein interessantes Stück Musik ab. Der Applaus ist herzlich, ebbt aber relativ schnell ab, so daß es keine Zugabe des Solisten gibt.
Nach der Pause steht die Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90 von Johannes Brahms auf dem Programm. Die hat der Wahlwiener anno 1883 zwar in Wiesbaden geschrieben, aber schon die Einleitung des ersten Satzes legt Stankow stark wienerisch an und arbeitet diesen biographischen Bezug des Komponisten noch deutlicher heraus, als das vielleicht original gedacht war. Das macht freilich nichts: Brahms scheint im Wiesbadener Sommer recht entspannt gewesen zu sein, und Stankow nimmt die ganze Sinfonie daher recht kammermusikalisch, arbeitet die Brüche und Gegensätze, von denen es dann doch den einen oder anderen gibt, nicht sonderlich stark heraus und setzt eher auf eine flüssige Wiedergabe. Darin folgt ihm das Orchester gern, das bei den Einsätzen wieder sehr sicher agiert, von einer Stelle kurz vor Ende des ersten Satzes mit einer radikalen Uneinigkeit von Horn und Holz mal abgesehen. Im zweiten Satz überzeugt Stankows Tempomanagement bis hinunter zum kompletten Stillstand, wobei er durchschnittlich durchaus nicht am unteren Ende der Skala spielen läßt. Dafür legen die Celli im Intro des dritten Satzes einen Rhythmus zum Tanzbeinschwingen, bevor es vor dem Hornthema dann recht ätherisch wird. Das greifen die Violen im Verlaufe des vierten Satzes noch einmal auf, allerdings hat sich bis dahin noch eine weitere Facette von Stankows Strategie gezeigt: Er setzt auch hier generell auf flüssige, fast unauffällig wirkende Wiedergabe, wodurch die gelegentlichen Tuttiausbrüche, kompositorisch von Brahms kaum vorbereitet, umso gefährlicher um die Ecke schießen und einen angrinsen wie eine Muräne, die man in ihrem Loch des Korallenriffs gestört hat. Nur der Schluß läßt noch Wünsche offen: Das Orchester hat im Bartók-Konzert bewiesen, zu was es im extrem leisen Bereich fähig ist, aber Stankow läßt das Spektrum hier schon weiter oben enden. Trotzdem erntet er mitsamt des Orchesters lauten Applaus (die Konzertunerfahrenheit guter Teile des durchschnittlich recht jungen Publikums hat sich im Zwischensatzapplaus bereits Gehör verschafft), und man packt, nachdem Universitätsmusikdirektor David Timm in einer kurzen Rede um Unterstützung für die noch nicht vollständige Finanzierung der Auslandsreise des Orchesters geworben hat, eine Zugabe aus, nämlich den ersten der Ungarischen Tänze von Johannes Brahms. Hier bricht sich dann aber studentische Ungezwungenheit samt entsprechenden Humors Bahn, und die Musik selbst gerät fast zur Nebensache. Die Musiker verkleiden sich nämlich blitzschnell winterfest, also mit Schals, Mützen (auch echte russische Fellmützen sind dabei) oder auch leuchtend gelben Bauhelmen, werfen während des Spielens mit weißen Papierknäueln, also Schnellballsimulationen, um sich, und von der linken Empore schüttet jemand eine schneesimulierende Substanz nach unten. Aber dabei bleibt es nicht: Hörner und Posaunen werden im Rhythmus des flott gespielten Stückes geschwungen, die zweiten Geigen und die Bratschen agieren ballettartig, indem sie im Takt während des Spielens kurz aufstehen (mal alle, mal auch reihenweise nacheinander), und die Cellisten ernten für ihre Herumwirbelung der Instrumente sogar Szenenapplaus. Das schraubt den Unterhaltungswert des Abends natürlich um etliche Prozentpunkte nach oben, aber auch rein musikalisch kann das Orchester, wenn an dem einen oder anderen problematischen Punkt noch etwas gefeilt wird, mit diesem Programm bedenkenlos nach Süddeutschland und über den Brenner ziehen.



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