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Symphonic Pink Floyd/9. Symphonie   12.12.2009   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Die titelgenannte 9. Symphonie ist im vorliegenden Falle diejenige Beethovens. Selbige bekommt man zum Jahreswechsel ja quasi in jeder größeren Stadt geboten, aber die Nachfrage übersteigt das Angebot im Regelfall dennoch. Allein das Gewandhausorchester zu Leipzig spielt das Werk dreimal, und trotzdem finden sich vier bzw. drei Wochen vorher auch noch genügend Menschen im Gewandhaus ein, um bei den beiden Konzerten der Leipziger Philharmoniker den Großen Saal zwar nicht auszuverkaufen, aber doch so gut zu füllen, daß nur ein Termin nicht genügt hätte, um alle Interessenten unterzubringen.
Nun ist das mit Beethovens Neunter ja so eine Sache. Man kann sie allein von der Länge her singulär spielen und hätte trotzdem eine respektable Konzertlänge erreicht; die meisten Jahresendaufführungen verfahren denn auch nach dieser Praxis. Aber schon der legendäre Herbert Kegel, dem die automatische Fixierung auf diese Sinfonie, wenn etwas Großes, Festliches gebraucht wurde, ein Dorn im Auge war, hatte eine Idee: Er spielte mit seinen Leipziger Rundfunksinfonikern im Regelfall ein zeitgenössisches Werk, das sich mancher Interessent an Beethovens Neunter sonst nie freiwillig angehört hätte (meist eines der komplizierten und aufwühlenden Sorte), und setzte die Neunte attacca hinten dran. Beethoven als Pädagogikelement, als Lockmittel, als Dosenöffner? Kegel hatte Erfolg mit dieser Strategie und konnte sein Leipziger Publikum schrittweise auch an neue E-Musik gewöhnen (sein anschließender Versuch, das Gleiche nach seinem Wechsel zur Staatskapelle Dresden noch einmal durchzuführen, scheiterte an der Starrköpfigkeit des Dresdner Publikums). Die Leipziger Philharmoniker fahren eine ähnliche Strategie. Sie setzen allerdings ein anderes Kontrastprogramm davor, nämlich sinfonische Adaptionen von Pink Floyd-Songs. Mit deren Originalen kann man ja ein elitäres E-Musik-Publikum immer noch erfolgreich vergraulen, insofern ist hier eine andere Art von Brückenbau gefragt, freilich nur noch bei einem Teil der Zielgruppe, während der andere, der sich schon längst daran gewöhnt hat, selbst im härtesten Metal gelegentlich Kooperationen mit Sinfonieorchestern zu erleben, keine Abweichung von der Normalität diagnostiziert und sich einfach nur auf einen schönen Konzertabend freut, der als Beitrag zum 20jährigen Wendejubiläum deklariert ist (Beethovens Neunte paßt per definitionem in solchen Fällen bekanntlich immer, und bezüglich Pink Floyd braucht man sich nur an Roger Waters' Berliner Konzertinszenierung von "The Wall" zu erinnern).

Die Folge der sechs Pink Floyd-Songs, die als einzelne Stücke dargeboten werden, nicht in einen großen verbundenen Kontext gestellt, beginnt mit "Brain Damage". Schnell wird klar, daß die vier im Programmheft genannten Gesangssolisten hier nicht zum Zuge kommen - Gilmours Gesangsrolle wird ausschließlich vom Philharmonischen Jugendchor Leipzig übernommen. Das ergibt in den ruhigeren Orchesterpassagen interessante bis schöne Wirkungen, aber je lauter das Orchester agiert, umso weniger hört man von den auf der Orgelempore postierten 60 Sängerinnen und Sängern. Das ist in diesem Song auch noch nicht weiter problematisch, denn es passiert sowieso nicht so sehr viel; man hat ein gewisses Gefühl der Ruhe vor dem Sturm und keineswegs das eines Hirnschadens.
Interessant ist die Frage, was Arrangeur Jeremy Jaz Coleman aus "Another Brick In The Wall Part 2" gemacht hat - und die Antwort überrascht: Der Chor singt hier keinen Text, sondern nur Vokalisen, vom Orchester arbeiten nur die Streicher, und der marschartige bis appellierende Charakter des Originals fehlt ganz. Leider wird er durch nichts anderes ersetzt, so daß auch dieser Song so vor sich hinplätschert, keine richtige Spannung aufkommen will. Zudem hinterlassen die Violinen besonders am Anfang eher ein Gefühl der Unordnung, das keineswegs nur durch das schlechte Notenmaterial hervorgerufen worden sein dürfte (immer wieder sieht man an einzelnen Pulten die Spieler mit den Seiten kämpfen, die nach dem Umblättern nicht liegenbleiben, sondern zurückpendeln). Da kann der Erste Violinist mit seinem wirklich schönen enthusiasmierten Solo vor dem zweiten Vokalisenpart auch nichts mehr herausreißen.
Auch "Comfortably Numb" bestreitet der Chor, von der Refrainzeile abgesehen, ausschließlich mit Vokalisen. Wirklich schöne Holzbläser im Intro werden durch eine grenzwertig holpernde Tiefstreichersolopassage wieder relativiert, und in puncto Dramatik passiert außer einer leichten Lautstärkeerhöhung ebenfalls nichts.
Aus dem Gleichmaß bricht erst "Breathe In The Air" entscheidend aus: Die fünf Schlagzeuger bekommen Beschäftigung, und das Intro gerät äußerst dramatisch, bombastisch und ausgreifend. Auch der Rest des Songs behält einen recht zupackenden Charakter, was dann nur wieder für das Problem sorgt, daß der Chor gegen das entfesselte Blech akustisch wenig Chancen hat.
Dieses Problem bekämpft "Nobody Home" erfolgreich: Nach hervorragender Bombaststeigerung im Intro wird die Dynamik in ein geschickt ausgelotetes System gelenkt, daß der Chor gleich nur die ruhigen Passagen singt (was er noch zurückhaltender als in den ersten Songs tut, abgesehen von leichten Ausfaserungen eine gute Figur machend), während die reinen Instrumentalpassagen in die Rubrik "großes Kino" fallen. Außerdem sorgt der witzige Schluß für den einen oder anderen Schmunzler.
"Us And Them" an letzter Position macht die übersichtliche Songauswahl deutlich (je dreimal Stoff von "The Wall" und von "Dark Side Of The Moon" - interessant wäre freilich mal eine klassische Umsetzung von "Shine On You Crazy Diamond") und gerät zum besten der sechs Beiträge. Im Intro, das (geplant) einen äußerst unruhigen Charakter hinterläßt, duellieren sich Klavier und Celli, während die Reststreicher pizzikato tupfen, der Chor verdient sich ein Sonderlob für die gekonnt ausgesungenen Echowirkungen in der Titelzeile und den ihr strukturell entsprechenden späteren Textzeilen, und die winzigen Tempoverschleppungen am Ende des (wiederholten) Powerparts verdeutlichen, was man hier für Detailarbeit zu leisten imstande ist (wobei unklar bleibt, ob die Reihe der Glockenschläge vor dem wiederum unruhigen Outro planmäßig immer einen Deut zu spät kommt). Freilich bleibt das im Gesamtkontext der Stücke leider ein Strohfeuer, das keine richtige Begeisterung mehr entfachen kann, und so gerät der Applaus reichlich müde, man bekommt mit Mühe zwei Vorhänge zustande.

Herbert Kegel hatte die Neunte gerne attacca hinter das andere Werk gesetzt; das tut Michael Köhler ("Vater" des Projektes und an diesem Abend für den aus ungenannten Gründen abwesenden Fabio Mastrangelo dirigierend, wobei er das erste Konzert eine Woche zuvor bereits planmäßig selbst geleitet hatte) nicht, sondern setzt eine reguläre Pause dazwischen. Den ersten Satz der Neunten geht er nicht in dem Tempo an, wie dies Kollege Chailly anhand Beethovens originaler Tempoangaben tun würde bzw. wird bzw. getan hat, aber es bleibt trotzdem recht flott. Etliche Einsätze klappern teils arg (Violinen, Hörner), aber die Dynamik in den gelegentlichen Bombastausbrüchen sitzt. Leider lassen die Philharmoniker den Satz später versanden, senken das Tempo, ohne aber ein richtiges "maestoso" hinzubekommen, und so endet der Satz irgendwo im grauen Nichts (was die Konzertunerfahrenen unter den Anwesenden trotzdem nicht vom heute eher unüblichen Zwischensatzapplaus abhält). Trotz wieder steigenden Tempos bleibt auch der zweite Satz irgendwie blaß, und die öfter zu spürende Unruhe im Orchester (beispielsweise rund um die erste Generalpause) ist diesbezüglich keineswegs als Gegenmittel zu werten. Das phasenweise schön flüssig-lebendige Spiel von Holz und Hörnern setzt die einzigen wirklichen Akzente dieses Satzes. Diese bleiben im vor sich hinplätschenden Adagio dann völlig aus - kein Tempo, aber auch keine Düsternis, keine Epik, aber auch keine vertraute Innigkeit, einfach gar nichts. Man muß aus diesem Satz natürlich keinen Dramatikhöhepunkt zu machen versuchen (das hat Beethoven ja auch gar nicht so geplant), aber irgendwas muß man doch aus ihm herausmeißeln, irgendwas ... Da erschrickt man fast über das plötzliche Weckrufthema, aber selbst dieses entfaltet nur in Relation zu seiner Umgebung so etwas wie Kraft oder Energie. Das ist im monströsen Finale dann anders - hier läßt Köhler die Musiker von der Leine und setzt die Endpunkte der Dramatikstrecke etwas weiter außen. Zwar lassen auch die Celli in puncto "singenden Tons" im Intro noch ein wenig Raum nach oben, aber danach wird's richtig interessant: Köhler nimmt das Tempo im "Götterfunken"-Thema ein wenig heraus. Man kennt ja die Karajan-Fassung, die man jeden Abend als letztes Stück vor Mitternacht als Europahymne auf dem Deutschlandfunk zu hören bekommt und die eine derartige Hektik verbreitet, daß man automatisch nervös wird. Köhlers etwas niedrigeres Tempo nützt der Vermeidung dieses Effektes in deutlicher Weise - da ist plötzlich viel mehr Struktur drin, man kann die einzelnen Linien besser auseinanderhalten und ein positives Gefühl zu dieser Passage entwickeln. Die Choraufgaben übernimmt diesmal der Chorus Berlin, der abgesehen von zwei Problemfällen eine gute Arbeit vollbringt: Die erste Passage "Seid umschlungen, Millionen" hinterläßt einen arg chaotischen Eindruck, als ob tatsächlich jeder aus den Millionen einzeln umschlungen wird, und die Zeile "Über Sternen muß er wohnen" mit ihrer Tonrepetierung in großer Höhe klingt so gequält wie Sauerstoffmangel in ebenjenen Höhen. Zum größten Problemfall des Abends aber wird das Solistenquartett: Baß Ezra Jung singt so, als ob er in einer italienischen Oper und nicht in Beethovens Neunter wäre, Patrick Vogel hat eine schöne natürliche Stimme, kann sich aber von der Stimmgewalt her vor allem gegen den crescendierenden Chor nicht durchsetzen, von Mezzosporanistin Vanessa Barkowski hört man fast gar nichts, und das liegt daran, daß Sopranistin Anna Molina mit extrem durchdringender Stimme alles niedersingt - und zwar mit sehr lautmalerischer, vokalisenartiger Intonation, während die anderen drei deutlich mehr Wert auf verständlichen Text zu legen versuchen. Von Harmonie, von Miteinander-Arbeiten im Quartett kann keine Rede sein. Schade drum, denn die Energieschübe des Orchesters kommen mittlerweile paßgenau, die Dynamik wird bis an die erwähnten weiter außen liegenden Grenzen geschoben, und der Schlußbombast krönt das Werk, einzelne Bravi und recht intensiven Applaus induzierend. In der Gesamtbetrachtung bleibt aber das Verdikt, daß aus dieser zweifellos guten Idee noch viel mehr herauszuholen gewesen wäre.



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