www.Crossover-agm.de
9. Sinfoniekonzert   20.05.2009   Chemnitz, Stadthalle
von rls

Wenn man als Orchester den Namen Robert-Schumann-Philharmonie trägt, ist man im Gedenkjahr des 200. Geburtstages von Felix Mendelssohn Bartholdy natürlich besonders gefordert (man rufe sich einfach die künstlerische Symbiose Mendelssohns und Schumanns ins Gedächtnis und weiß, warum). So gehört denn auch die erste Hälfte des 9. Sinfoniekonzerts dem Werk Mendelssohns - allerdings mit zwei Exempeln, an denen Schumann keinerlei Aktie hatte, da sie entstanden, bevor sich Mendelssohn und Schumann persönlich kennenlernten. Den Auftakt bildet dabei die Ouvertüre zu Shakespeares "Sommernachtstraum", neben ihrer eigentlichen Funktion als Schauspielouvertüre auch noch ein fast noch erfolgreicheres Paralleldasein als Konzertstück führend. Das hübsche Stück gelingt Frank Beermann und seinen Chemnitzern bis auf einige Abstriche gut. Als Problemfall sollen sich die vier markanten Holzbläserakkorde erweisen, die eine Art Gliederungsfunktion erfüllen und dreimal erklingen: zu Anfang, in der Mitte und zum Schluß. Wenn von diesen zwölf Akkorden das Holz sich gleich siebenmal nicht über den exakten Einsatz einig wird (darunter alle drei Exemplare des vierten Akkordes), dann ist das eindeutig zuviel. Wenigstens versöhnen die kompetent durch die Nacht flirrenden Streicher und besonders das herrlich knarzende Kontrafagott den Hörer wieder. Das maximale Energielevel beläßt Beermann noch im eher mittleren Bereich, konzentriert sich bedarfsweise eher auf die Darstellung epischer Breite und zaubert mit der traumhaften fagottdominierten Kammermusik im Schlußteil eine Ahnung des Großen herbei, das gleich folgen soll.
Was hier folgt, ist nun nicht die Schauspielmusik selbst, sondern Mendelssohns 1. Klavierkonzert g-Moll. Selbiges und alle anderen Mendelssohn-Gattungsbeiträge hat das Orchester unter Beermann mit dem Pianisten Matthias Kirschnereit erst unlängst auf einer Doppel-CD herausgebracht - man ist also bestens aufeinander eingespielt, und das merkt das Publikum auch. Daß Kirschnereit beim Betreten der Bühne in die falsche Richtung läuft, bleibt da das einzige Kuriosum (interessantes Detail: Man hat auf offener Bühne umgebaut, also den Flügel nicht schon bei der Ouvertüre in der Mitte stehen gehabt, wohingegen einige Utensilien für den zweiten Teil des Konzertes schon im ersten die Bühne bevölkern) neben der Tatsache, daß mitten im Stück dem Linksaußen die Geige auseinanderfällt. Das eröffnende Molto allegro con fuoco nehmen sowohl Orchester als auch Solist zunächst sehr wogend, ohne Angst vor schnellen Tempi, wenngleich bisweilen noch mit problematischer Lautstärkebalance: Zwei, drei Holzbläser reichen, um die tiefen Töne des Klaviers ins Abseits zu stellen - mit den Streichern klappt die Balance besser, und in den Höhen kann man Kirschnereits perlendes und nie zu technisch wirkendes Spiel durchgehend genießen. Das Trompetensignal am Ende des ersten Satzes läutet die zauberhaftesten Momente des ganzen Konzertes ein, nämlich den kompletten zweiten Satz, mit "Andante" überschrieben. Kirschnereit malt Bilder mit seinem Klavier, das Orchester vermag ihm emotional gleichwertig zu antworten, fast alles bleibt ruhig, aber ohne zu schleppen, und atmet einen tiefen Geist der Harmonie zwischen Komponist, Ausführenden und Hörer. Dafür, daß das Publikum den alten bösen Witz "Wenn man krank ist, geht man zum Arzt - außer den Erkälteten: Die gehen ins Konzert" mit Leben erfüllt und dadurch manche hochspannende Passage, die hauptsächlich Kirschnereit aufbaut, sabotiert, können die Bühnenakteure ja nichts. Allenfalls das gemeinschaftliche Cello-Klavier-Solo hätten sie noch einen Tick unaufgeregter nehmen können - aber spätestens das zauberhafte Moriendo am Satzende läßt solche Kleinigkeiten im Nebel der Unbedeutung verschwinden. "Presto - molto allegro e vivace" steht über dem dritten und letzten Satz, und Beermann erlaubt sich hier auch ein recht hohes Tempo, ohne freilich das letzte Prozent an Miteinander zwischen Pianist und Orchester herstellen zu können (im Klartext: hier und da schwimmt der Gesamtklang ein bißchen), wenngleich man wie erwähnt schon hört, daß sie dieses Werk nicht zum ersten Mal zusammen spielen. Das Energieniveau stimmt, das Klavier fließt (im positiven Sinne!), und das Werk lebt. Das weiß auch das Publikum in der nicht ganz gefüllten Stadthalle zu schätzen, das frenetisch applaudiert und Kirschnereit nicht ohne Zugabe davonkommen läßt. Positiv: Er sagt die Zugabentitel an und läßt den Teil der nicht so kammermusikalisch orientierten Zuhörerschaft daher nicht in verzweifelte Ratespiele ausbrechen, was das nun wieder ist. Interessant: Er wählt Stücke, deren pianistischer Ansatz komplett von dem des Mendelssohn-Konzertes verschieden ist. Zunächst erklingt "Mouvement" von Claude Debussy (ein sehr lautmalerisch orientiertes Stück, aber komplett anders lautmalerisch als der zweite Mendelssohn-Satz, von einer mal latenten, mal vordergründigen Unrast geprägt, mit einem witzigen abrupten Schluß und der Erkenntnis, wo Rick Wakeman manchen Klangeinfall her bezogen haben könnte) und dann, da das Publikum gar keine Ruhe geben will, auch noch der "Abschiedswalzer" von Johannes Brahms (ein gelungener Mix aus Emotion und norddeutscher Sprödigkeit). Mit diesen beiden Stücken beweist Kirschnereit seine Vielseitigkeit - da sitzt eben kein Klaviertiger, sondern ein wahrer Könner.
Nach diesem Gipfel gedenkt das Orchester im zweiten Konzertteil noch einen anderen zu erklimmen, nämlich denjenigen namenlosen, dessen Ersteigung Richard Strauss in die Töne seiner Alpensinfonie gegossen hat. Daß ein entsprechender Gipfel wahrscheinlich gar nicht existiert, macht schon die eigenartige Konstellation Strauss' klar, der den Bergsteiger im Aufstieg nacheinander alpine Matten, ein Dickicht und einen Gletscher über- bzw. durchqueren läßt, was eine extrem eigentümliche Geländetopographie oder aber einen eigentlich nicht vorhergesehenen und kompositorisch sonst nirgendwo konzipierten Zwischenabstieg voraussetzen würde. Wie auch immer: "Das könn'se aber nich als B-Orchestr spieln", kommentiert eine Dame in der Reihe hinter dem Rezensenten die gewaltige Orchesterbesetzung (allein sechs Schlagzeuger werden gebraucht, auch die Orgel an der Hallenrückwand ist besetzt und wird übrigens vom Spieltisch direkt am Instrument aus bedient, nicht von einem mobilen, wie man das beispielsweise aus dem Leipziger Gewandhaus kennt) vor dem Hintergrund des wenn nicht sogleich, so doch in der Zukunft sicher immer mal wieder über dem Orchester schwebenden Damoklesschwertes der Herabstufung aus finanziellen Gründen. Beermann hat von Strauss die Bändigung bisweilen recht großer Klangmassen als Aufgabe bekommen, und hinterher meint eine andere Dame aus der Reihe hinter dem Rezensenten: "Da wäre mehr herauszuholen gewesen." Prinzipiell hat sie recht mit dieser Feststellung, denn wirklich gelungene Momente wechseln sich munter mit solchen, die Wünsche offenlassen, ab, wobei letztgenannte meist Detailausfeilungen betreffen, während die generelle Marschrichtung Beermanns schon stimmt - und sie ist dahingehend interessant, daß sie sich keiner der möglichen extremen Ausführungen (von extrem schmalzig über extrem schnell bis extrem kantig - man kann noch weitere Attribute finden) konsequent anschließt, sondern sich von jeder ein paar Elemente pflückt. Die Nacht klingt bei Beermann programmgemäß finster - ein, zwei verpatzte Einsätze finden sich im dunklen Teppich, sonst ist dieser gut geknüpft. Im Sonnenaufgang werden sich die Streicher mit dem Glockenspiel nicht einig, was den ansonsten gelungenen großen Klangbogen aber nur minimal beeinträchtigt. Beermann zeigt danach mit der Wahl des Anstiegtempos, daß er der noch recht jungen Disziplin des Speedbergsteigens Sympathie entgegenbringt, und nachdem man die viel zu lauten Fernhörner überlebt und aus dem alles andere als majestätisch, sondern unruhig-wuselnd klingenden Wald (eine Nachwirkung des "Sommernachtstraumes"?) herausgekommen ist, zeigt sich eine große Stärke von Dirigent und Orchester bei der akustischen Darstellung der weiten Almen und Matten, die zugleich immer weiter reichende Ausblicke ermöglichen - diese Bilder kann man in der Stadthalle fast mit den Händen greifen, und der Blick reicht gar bis Tibet (anders sind die akustisch an tibetisches Mönchsgebimmel erinnernden Kuhglocken nicht zu erklären). Noch eine gewaltige plastische Leistung vollbringen Beermann und das Orchester in der Irrwegspassage, bei der man verwegene Quergänge förmlich wie aus Stein gemeißelt vor sich sieht. Auch die Spannung im letzten Teil des Aufstieges, also an der Gipfelpyramide, paßt, während der Gipfeltriumph zwar ausladend konzipiert ist, aber hier irgendwie noch Reserven offenbleiben. Da die Adrenalinausschüttung des Aufstieges mittlerweile zurückgegangen ist, beginnen sich auch wieder etliche Hacker bei den Einsätzen einzuschleichen, die mystische Gipfelvision läßt Beermann so undeutlich ausgestalten, daß der naturgemäß unklare Eindruck einer solchen Erscheinung schon fast wieder konterkariert wird, die Elegie zerfasert zu sehr, und erst die Stille vor dem Sturm könnte zumindest orchesterseitig wieder höchsten Spannungsansprüchen genügen (daß sie es nicht tut, liegt mal wieder an der Unruhe im Publikum). Über das Kuriosum, daß Strauss den Bergsteiger das Gewitter seelenruhig auf dem Gipfel abwarten läßt (daß man das aus Sicherheitsgründen tunlichst unterlassen sollte, war auch schon Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt), schmunzelt man eher, auch wenn das Chemnitzer Gewitter keinen ganz hohen Wert auf der Skala der Unwetterkatastrophen erreicht. Dafür malt das Orchester noch einen richtig schönen Sonnenuntergang, bevor es sich im weiteren Verlaufe des Abstiegs wieder etliche Stolperer gönnt, deren letzter an der Schwelle der endlich glücklich erreichten Hütte lauert - will heißen: gar gräuseliger Einsatz des Schlußtons. So sinkt der Bergsteiger auf sein Lager, und das Publikum zeigt sich feinfühlig: Man applaudiert lange und intensiv, aber nicht so frenetisch wie nach dem Mendelssohn-Klavierkonzert, was relativ exakt auch dem qualitativen Verhältnis entspricht.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver