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Anatevka   28.03.2009   Chemnitz, Opernhaus
von rls

Das Musical "Anatevka", im englischen Sprachraum bekannter unter seinem Originaltitel "Fiddler On The Roof", zählt zu den erfolgreichsten Beiträgen seines Genres aller Zeiten - immerhin spielte man es ab 1964 acht Jahre lang permanent am Broadway und knackte damit die vorher nie erreichte Marke von 3000 Vorstellungen. In Chemnitz stand das Musical in den 90er Jahren schon einmal im Spielplan, aber der Rezensent hat es damals nicht gesehen und kann daher keine Vergleiche ziehen, sondern hat die Premiere der neuen Aufführung eigenständig zu bewerten, was je nach Ausgangslage ein Vor- wie ein Nachteil sein kann.
Die Handlung ist an der Schnittstelle zweier Kulturkreise angesiedelt und fokussiert die Beziehungen innerhalb einer nahezu autark lebenden jüdischen Gemeinde in Rußland sowie die der Gemeinde zur "Außenwelt". Daraus bezieht die Geschichte ihr Konfliktpotential, ihre Spannung, aber auch ihre beinahe politische Sprengkraft: Während die Konflikte innerhalb der Gemeinde auch Stoff für eine harmlose Operette oder einen Schwank für Peter Steiners Theaterstadl hergegeben hätten (wenn man eine bestimmte Szenerie, nämlich Tevjes Verstoßen seiner Tochter Chave, die einen Nichtjuden liebt, ausblendet - dazu gleich mehr), sorgt die zwangsweise Verbindung zum zaristischen Rußland und dessen Staatsapparat (die nichtjüdischen Bewohner Anatevkas und des Restes der Welt kommen mit Ausnahme von Fedja, Chaves Freund, nicht vor) an zwei entscheidenden Stellen für das politische Dynamit. Bis dahin hat man im ersten Akt meist belustigt die Geschehnisse in der traditionsbewußten jüdischen Gemeinde Anatevkas verfolgt: Milchmann Tevje hat fünf Töchter, deren drei älteste mittlerweile im heiratsfähigen Alter angekommen sind, sich allerdings gegen die Tradition der Stiftung von Ehen durch die gemeindeinterne Heiratsvermittlerin Jente auflehnen. Die älteste Tochter Zeitl etwa hat sich heimlich mit dem Schneider Motl, ihrer Sandkastenliebe, verlobt und fällt daher aus allen Wolken, als sie plötzlich den reichen, aber unbeliebten Fleischer Lejser-Wolf heiraten soll. Tevje, vor diesen ersten Konflikt gestellt, gibt schließlich nach und erlaubt seiner Tochter die Hochzeit mit Motl. Der zweite Konflikt, eine Nummer größer, geht aufs Konto der zweitältesten Tochter Hodel, die den Studenten und Revolutionär Pertschik liebt. Auch hier gibt Tevje nach einigem Hin und Her schließlich nach und willigt sogar ein, daß Hodel Pertschik in die Verbannung nach Sibirien folgt. Den dritten Konflikt, noch einmal eine Nummer größer, aber vermag Tevje nicht mehr auszutragen - die drittälteste Tochter Chave liebt den Nichtjuden Fedja, und über diesen Schatten kann der Jude nicht springen, er verstößt die Tochter, und selbst die angedeutete Versöhnung in der Katastrophe am Ende des Stückes verbleibt im vagen Bereich, mehr als eine Zweckgemeinschaft ergibt sich nicht. Die dargestellte Schichtung der Konflikte würde in der heutigen Empfindlichkeit judenfeindlichen Thematiken gegenüber in bestimmten Kreisen sofort als Sakrileg angesehen (nach dem Motto: Der Jude will sich gar nicht integrieren und zersetzt daher die Gesellschaft), wenn dieser Fall hier nicht über jeden Zweifel erhaben wäre, da der Roman "Tewje, der Milchmann" von Scholem Alejchem die Grundlage für das Musical bildet, und Alejchem ist schließlich selbst Jude gewesen, hat in der Figur des Pertschik auch noch autobiographische Züge untergebracht und war in der jüdischen Welt Osteuropas mit seinen Erzählungen sehr beliebt. Und noch etwas ist im Stück autobiographisch, nämlich der erwähnte politische Konfliktstoff: In Rußland hatten die Juden traditionell einen eher schweren Stand, was sich übrigens auch später in Sowjetzeiten nicht ändern sollte (man erinnere sich an das Aufsehen, das Dmitri Schostakowitsch beispielsweise mit seiner 13. Sinfonie und deren Thematisierung der offiziell totgeschwiegenen, aber immer noch aktuellen jüdischen Unterdrückung in der Sowjetunion hervorrief). Obwohl es immer wieder zu pogromartigen Übergriffen kommt, bleibt die jüdische Gemeinde ihrer Stadt doch treu (das thematisiert gleich der Eröffnungsgesang "Tradition" mit der Textzeile "Wir bleiben, weil Anatevka unsere Heimat ist"), wobei das Bühnenbild einen interessanten Gegensatz zeigt: Die Gemeinde lebt in der Stadt relativ abgeschottet, fast ghettoartig - aber sie beschriftet ihre Häuser und Läden trotzdem in Russisch und nicht in Hebräisch oder Jiddisch. Zweimal bricht in dieses scheinbar idyllische Bild die Staatsmacht herein, zweimal an entscheidenden Stellen: Zum einen verwüstet am Ende des ersten Akts ein Überfallkommando der russischen Obrigkeit den Saal während der Hochzeit von Motl und Zeitl und sorgt damit für nachhaltige Verstörung des Publikums in der Pause, das während des gesamten ersten Akts emotional noch wenig gefordert worden war, zum anderen ergeht zum Ende des zweiten Aktes und damit auch des Stückes der Räumungsbefehl der Verwaltung an die jüdische Gemeinde Anatevkas, die daraufhin auswandern muß - das ist die oben erwähnte Katastrophe, vor deren Hintergrund Fedja und Chave noch einmal einen Versöhnungsversuch mit Tevje unternehmen, aber letzten Endes nichts oder zumindest nicht genug erreichen können. In diesem Scheitern, verbunden mit der Zerstörung des jüdischen Teils von Anatevka, offenbart sich letzten Endes der ungelöst bleibende Konfliktstoff, dem sich die Juden quasi überall in der Diaspora ausgesetzt sahen und sehen und den sie umgekehrt dann auch wieder bei ihrer Rückbesiedlung Israels bzw. Palästinas auf die dort zwischenzeitlich siedelnden Völkerschaften übertragen haben, nur eben dann unter anderen Vorzeichen. Aber darauf geht das Stück selbstredend nicht ein, wenngleich die Auswanderungsstruktur noch einmal ein interessantes Moment beinhaltet: Alejchem läßt die Juden Anatevkas nach Amerika auswandern, wie er es auch selbst anno 1905 tun mußte - der Gedanke einer Auswanderung nach Zion, wo gerade unter Theodor Herzl die "Pionierarbeit" geleistet wurde, wird nicht geäußert.
Und was tut nun der titelgebende Fiedler auf dem Dach? Er sorgt einerseits für Unterhaltung im Dorf (auch er ist eine authentische Figur) und ist dementsprechend etwas harlekinesk gekleidet, andererseits aber verkörpert er perfekt die duale Rolle der Juden, die sich einerseits auch in den schwärzesten Momenten irgendwie Kraft und Humor erhalten konnten, andererseits aber auch in den positivsten Momenten immer eine Spur Selbstmitleid mitschwingen lassen. Joseph Stein, der Alejchems Buch für die Musicalfassung aufbereitet hat, setzt den Fiedler dabei interessanterweise eher auf der düsteren Seite ein: Auf der Hochzeit von Motl und Zejtl, in der es trotz kleiner gemeindeinterner Konflikte (der Fleischer etwa ist immer noch untröstlich, daß nicht er Zejtl bekommen hat) bis zum Eintreffen des Überfallkommandos locker und lustig zugeht, spielt zum Tanz "Ein Musikant" auf, hier ein Holzbläser aus dem Orchester, und eben gerade nicht der Fiedler, den Stein immer dann besetzt, wenn eine Katastrophe bevorsteht oder sich zumindest unterschwellig ein Konfliktpotential aufbaut. Passend dazu hat der Fiedler meist eher schwermütige Melodien zu spielen, schon sein Hauptthema, das er in Gemeinschaftsarbeit mit dem Orchester vorträgt und das im Stück immer wieder auftaucht, trägt eine tiefe Melancholie in sich und sorgt am Schluß noch für ein weiteres Paradoxon: Schon am Ende des ersten Aktes hatte Stein die Handlung nicht ganz in der Katastrophe enden lassen, sondern Tevje eine zaghafte Aufforderung "Räumen wir auf" (nach Abzug des Überfallkommandos) in den Mund gelegt, damit das jüdische Volk in die Rolle des Stehaufmännchens drängend, das sich aus jeder Lage, sei sie noch so finster, wieder herausarbeiten kann (diese schon sehr alte Theorie wurde dann von bestimmten Kreisen dahingehend interpretiert, daß man das Judentum mit Stumpf und Stiel ausrotten müsse, um seinem verderblichen Einfluß Herr zu werden). Am Ende des zweiten Aktes und des Stückes aber, als Anatevka wieder in Trümmern liegt, alle weg sind und nur noch der Fiedler über die zerstörte Bühne schleicht, läßt Jerry Bock, der Komponist des Musicals, den Fiedler das Hauptthema mittendrin abbrechen. Mit dieser Szene hätte man das Musical in der Katastrophe enden lassen können, und das wäre eigentlich in emotionaler Hinsicht auch berechtigt gewesen. Aber wieder kommt das Stehaufmännchen-Prinzip zum Tragen, in doppelter Hinsicht: Zum einen läßt Regisseur Michael Heinicke den Fiedler nach Ende seiner abgebrochenen Tonfolge noch einen auf der Bühne herumliegenden Stuhl, der sonst Tevje während seiner familiären Konfliktlösungen gehört hat, wieder hinstellen (das kann eine spielerische Zutat sein, die im Buch nicht vorgegeben sein muß - vergleiche, wer Steins Konzept oder Alejchems Buch hat), zum anderen aber läßt Komponist Bock das Orchester nach einer kleinen Pause noch zwei friedliche Durakkorde spielen, die den Betrachter letztlich völlig verwirrt zurücklassen und ihm irgendwie ein ungutes Gefühl einimpfen, das er allenfalls mit der alten chinesischen Philosophie wieder bekämpfen kann, die einen lehrt, daß in jedem Scheitern auch eine neue Chance liegen kann, vielleicht sogar liegt.
Damit wären wir bei den musikalischen Leistungen: Im Graben sitzt die ohrenscheinlich recht sparsam besetzte Robert-Schumann-Philharmonie, dirigiert von Domonkos Héja, und sie bringt das auch im Programmheft thematisierte und von Bock so angelegte Kunststück schön deutlich hin, die paradoxe Verwandtschaft der ostjüdischen und der slawischen, in diesem Fall der russischen Musik herauszuarbeiten (auch diese These kann man freilich gefährlich umdeuten, indem man feststellt, daß es eben beides Untermenschenvölker sind). Auch einige der Tanznummern kann man herkunftsseitig nicht so eindeutig zuordnen. Von den Spielern bzw. Sängern unterschreitet keiner ein gutes Niveau, allerdings ragt Matthias Winter als Tevje heraus, einerseits weil er die zentrale Rolle des Stückes verkörpert, andererseits aber auch weil er das ausgezeichnet macht - erstklassig etwa seine Umsetzung der Steilvorlagen aus dem Buch, wenn er zum Unnennbaren betet und gleichzeitig mit ihm hadert, nicht weniger erstklassig die Schizophrenie in den zentralen Konflikten mit seinen drei ältesten Töchtern, als diese ihm ihre eigenen Heiratspläne klarmachen. So bekommt er zum Schluß in verdientem Maße den stärksten Applaus, wenngleich für den ultimativen Spruch des Stücks Frank Höhnerbach als Rabbi zu sorgen hat: "Gott erhalte uns den Zaren ... und er halte ihn uns vom Leibe." Was oberflächlich betrachtet humorig klingt (überhaupt ist das Humorlevel im Stück recht unterschiedlich, vom Holzhammer bis zum Hintergrund), beinhaltet bei näherem Nachdenken eigentlich den kompletten zentralen Konflikt, ja die Tragik des Stückes, die zu erkennen bzw. für sich selbst herauszuarbeiten allerdings etwas Arbeit erfordert, bei der einem die relativ neutrale Inszenierung von Michael Heinicke nur einige Anhaltspunkte liefern kann. Selber denken ist also gefragt.
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