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6. Philharmonisches Konzert "Paul Graener - Richard Strauss"   20.03.2009   Altenburg, Theater
von rls

Die theoretisch durchaus möglich gewesene Überschrift "Musik aus der Reichsmusikkammer" hat sich die Programmfraktion dann doch verkniffen. Zwar übten beide im 6. Philharmonischen Konzert von Theater&Philharmonie Thüringen vertretenen Komponisten Funktionen in ebendiesem Gremium aus, aber eine Reduzierung auf diese griffe bei beiden zu kurz, wenngleich die Intensität ihrer Systemimmanenz Unterschiede deutlich macht: Strauss, der zu den Nationalsozialisten genauso loyal wie zu jeder anderen deutschen Regierung war, wurde nach dem Krieg erfolgreich "entnazifiziert" und behielt im kollektiven Gedächtnis seinen musikalischen Ausnahmestatus. Graener dagegen war von der nationalsozialistischen Idee zumindest bis zu einem bestimmten Punkt (der für ihn erreicht war, als seine jüdischen Komponisten- und Musikerfreunde einer nach dem anderen kaltgestellt wurden) durchaus überzeugt, starb aber schon 1944, wurde demnach nicht "entnazifiziert", verblieb allerdings auch nicht als Nazifunktionär im kollektiven Gedächtnis, sondern wurde gleich komplett vergessen, sowohl als Funktionär als auch als Komponist. Chefdramaturg Tobias Wolff und seine Mannschaft stellen Graener und Strauss nun musikalisch gegenüber, und Wolff erklärt im Vorwort auch noch eine andere Intention: "Mit Werken wie dem soeben erstaufgeführten 'Scharlatan' von Pavel Haas oder der Oper 'Wallenstein' von Jaromír Weinberger in der kommenden Saison wollen wir Komponisten, die von den Nationalsozialisten verfolgt und unterdrückt wurden, wieder eine Stimme geben. Die Musikszene der 30er und 40er Jahre bestand aber nicht nur aus Opfern und Systemkritikern. Es gab auch Komponisten, die von dem System überzeugt waren, und auch sie haben Musik geschrieben. Wenn man das Bild dieser Zeit realistisch einschätzen will, muss man sich auch mit diesen anderen Komponisten auseinandersetzen." Ein im wissenschaftlichen und musikhistoriographischen Sinne durchaus lobenswerter Ansatz - ein Glück nur, daß die Antifa davon nichts mitbekommen hat, denn damit macht man sich in diesen Kreisen keine Freunde, und auch manch empfindlicher Opferverband hat in solchen Fällen mitunter schon (über-)reagiert, so als ob man unkommentiert heute wieder Hitler-Lobgesänge (auch solche gab es zur damaligen Zeit logischerweise) aufführen würde. In Zeiten, wo "Mein Kampf" in Deutschland nach wie vor nicht als wissenschaftlich kommentierte Neuausgabe erscheinen darf, obwohl selbst die damaligen Kriegsgegner das schon lange erlauben, begibt man sich mit solchen Projekten wie dem Gera-Altenburger immer noch auf dünnes Eis, und es ist Wolff und seinen Mitstreitern daher hoch anzurechnen, daß sie diesen Gang gewagt haben.
Um nun endlich zur Musik zu kommen: Drei Werke von Paul Graener bilden die erste Hälfte dieses Konzertes, alle drei erst in nationalsozialistischer Zeit oder kurz davor geschrieben, alle drei aber ohne inhaltlich nationalsozialistisches Programm (von der Vertonung solcher Stoffe hat sich Graener bis auf einige gut versteckte Anspielungen konsequent ferngehalten, soweit heute bekannt ist - viel von seinem Schaffen ist allerdings 1944 bei der Ausbombung seiner Berliner Wohnung vernichtet worden). Die Eröffnung bildet die Wiener Sinfonie op. 110, ein Dreisätzer, und schon dessen erster Satz Allegro moderato verdeutlicht Graeners äußerst anachronistisch anmutende Kompositionsweise, die sich von sämtlichen im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts als modern geltenden Stilistika konsequent fernhält, sich dafür in den Jahrhunderten zuvor reichlich bedient und als verknüpfendes Element allenfalls die Spätromantik zuläßt, die zu dieser Zeit aber auch schon in den allerletzten Zügen lag. Und noch etwas fällt schon im ersten Break auf, nämlich Graeners Affinität zur Flöte, die hier einige prominente Momente bestreiten darf und in den anderen beiden Werken des Abends gar das Soloinstrument stellt. Nicht selten klingt der erste Satz, als ob Johann Strauß Enkel Sinfoniker gewesen wäre, recht streicherlastig kommt das Ganze daher, die Holzbreaks atmen pastoralen Geist, das Blech klingt phasenweise noch älter, nämlich fast barock, und schöne Hornsoli entschädigen für das Faktum, daß dieser erste Satz komplett konflikt- oder dramatikfreie Zone bleibt. Das ändert sich im Andante sostenuto kaum - auch in diesem etwas ausladenderen, angedüsterten Satz kommt nur zweimal sowas wie überschwellige Dramatik auf. Auch hier fällt die Flöte wieder häufig auf, einmal sogar, indem sie die gedämpft spielende Solovioline vorwitzig übertönt. Das Con moto an dritter Satzstelle mixt dann munter Barockmelodik, Strauß und einen Schuß Spätromantik zu einem großen Ganzen, wird aber erst nach der Generalpause richtig stark, wenn sich ein episch-breiter Choral entspinnt, in den Eric Solén am Pult des Philharmonischen Orchesters Altenburg-Gera eine geschickte Steigerungslinie legt, ohne aber das schleppende Tempo zu verschärfen, was diesem Teil eine Extraportion Wucht verleiht. Da verzeiht man den etwas ausgefaserten Schluß gern.
"Die Flöte von Sanssouci" heißt die Überschrift der Suite für Flöte und Kammerorchester op. 88, und da erkennt der Musikhistoriker natürlich ohne Probleme die Anspielung auf Friedrich II. von Preußen, der selbst gut Flöte spielte. Zunächst überrascht die Bezeichnung "Kammerorchester", denn der Personalbestand bleibt im Vergleich zur Wiener Sinfonie fast konstant, die Schlagzeugfraktion wird sogar von 1 auf 2 verdoppelt. Der Soloflötist ist in diesem Falle einer der orchestereigenen Flötisten, und der steht auch nicht vorn, sondern bleibt im Orchester und verläßt seinen Platz nur dann, wenn er einen "Fernflötenpart" zu spielen hat, was er dann außerhalb des Saales tut. Die sehr langsame angedüsterte Introduktion wird nur von wenigen Instrumenten bestritten, bevor die Sarabande in vollem Orchester einsetzt und recht gravitätisch durch den Raum schreitet. Die Flöte steht hier noch wenig im Mittelpunkt, allerdings fällt auf, daß ihr Dialog mit der Solovioline diesmal deutlich harmonischer ausfällt. Die Gavotte an nächster Stelle stellt sowohl die Flöte als auch das Cembalo weiter in den Vordergrund und hält ihren lockeren Tanzcharakter auch im Tutti noch durch. Dagegen fällt das Air etwas ab - unauffällig und alles andere als luftig oder ätherisch, wogegen auch die hier noch präsentere Flöte nicht ankämpfen kann. Dafür überzeugt das abschließende Rigaudon: Zunächst entwickelt sich eine mäßig wilde Party mit einer für Graener überraschend modernen Tonsprache in der Hauptmelodie (der Flötenanteil wird hier wieder deutlich zurückgeschaubt und beschränkt sich an markanten Stellen lediglich auf die Hauptthemawiederkehr), und dann entwickelt sich plötzlich ein düsterer, fast nordisch wirkender und im besten Sinne an Grieg erinnernder Schlußpart.
Für Graeners Flötenkonzert op. 116 hat man sich mit Cornelia Grohmann vom Gewandhausorchester Leipzig dann doch eine Gastsolistin geholt. Die steht vorn, und zugleich nimmt die Orchesterbesetzung deutlich auf eine Art Kammerorchesterstärke ab; das Schlagzeug bleibt gleich komplett unbesetzt. Das Un poco Allegro ma moderato legt eine lockere und undefinierbare, aber definitiv anachronistische Tonsprache an den Tag, wobei Grohmann mit relativ viel Kraftaufwand spielen muß, wenn sie das volle Orchester neben sich hat, denn ihr Flötenton fällt überraschenderweise nicht so durchdringend aus, wie man das in anderen Fällen bisweilen schon gehört hat. Leider behält sie diesen Kraftaufwand auch im Andantino in den zurückhaltender instrumentierten Passagen bei - dort "drückt" die Flöte dann im Gesamtmix viel zu sehr. Besser gelingt die Balance dann wieder im abschließenden Rondo über das Thema "Freut Euch des Lebens" (nein, das sollte man nicht als makabren Scherz vor dem Hintergrund der Entstehungszeit werten). Das Thema kommt zunächst im Orchester, wird dann von der Flöte aufgenommen und in der Folge einerseits direkt, andererseits auch nur per Inhaltsübertragung variiert bzw. illustriert. Die Freude bleibt bis auf einige Verharrungen weitgehend ungetrübt, eine kurze Kadenz leitet in einen netten Schluß über, und das Stück ist so schnell vorbei, wie es herangeflogen ist. "Das würde man gerne öfter hören", meint die ältere Dame zwei Plätze rechts neben dem Rezensenten und steht mit dieser Meinung im übersichtlich gefüllten Saal offensichtlich nicht allein da.
Richard Strauss war bekanntlich schon ein äußerst populärer Komponist, als der Führer noch in den Windeln lag, und seine Sinfonische Dichtung "Also sprach Zarathustra" op. 30 entstand, als der kleine Adolf gerade das Schulbubenalter erreicht hatte. Noch etwas älter ist Friedrich Nietzsches Buch "Also sprach Zarathustra", das Strauss als lockeren Leitfaden seiner Komposition verwendet hat und dessen Übermenschenkonzept Jahrzehnte später im Nationalsozialismus um das schon jahrhunderte- oder jahrtausendealte Untermenschenkonzept (ein Blick auf das Prinzip der Sklaverei genügt) erweitert und sozialdarwinistisch umgedeutet wurde. Dafür freilich konnten weder Nietzsche noch Strauss etwas, und auch welchen Stellenwert zoroastrische Ideen eines Tages haben bzw. nicht haben würden, konnten sie noch nicht ahnen, ebensowenig Stanley Kubricks Idee, das eröffnende Sonnenaufgangsthema in seinen Film "2001 - Odyssee im Weltraum" an markanter Stelle einzusetzen (nämlich dort, als der Frühmensch die Funktion von Werkzeugen entdeckt), so daß man dieses Thema auch weitreichend außerhalb klassischer Liebhaberkreise kennt. Unglück daher, daß das Orchester ausgerechnet dieses Thema nicht paßgenau hinbekommt - die Trompeten sind sich bei ihrem ersten Ton uneins, auch das Becken scheppert zu früh, bevor dann aber der triumphale Charakter doch hundertprozentig herübergebracht werden kann. Die neun Teile der Dichtung gehen allesamt ineinander über und weisen jeweils relativ markante Merkmale auf, die Solén auch mit gekonntem Händchen herausarbeitet, wobei er sich für die sehr gelungene extrem finstere Fuge in "Von der Wissenschaft" ein Sonderlob verdient, während einige andere Parts eine überraschende Randstellung der Streicher offenbaren: Die hellen Töne sind da, die dunklen auch, aber von den Mitten hört man wenig bis nichts. Das nächste Sonderlob gibt's für die nervenzerfetzenden Parts in "Der Genesende" unmittelbar vor der Generalpause, deren Intensität hundertprozentig stimmt, während zumindest Teile der erzeugten Nervosität in der weiteren Folge des "Genesenden" sowie besonders im folgenden "Tanzlied" vermutlich nicht so intendiert waren. Dafür paßt die Wucht der seltenen, aber effektiven Lärmpassagen, und auch die Herausmodellierung der Gegensätze zwischen Violinen und Orchesterrest meistert Solén mit gutem Gefühl für Schroffheit. Nur der Schluß wirft wieder Probleme auf: Während die Tiefstreicher ihren Kontrastpart wirkungsvoll setzen, hat der Gegenpol von Holz und Violinen mit dem intendierten ätherischen Charakter wenig zu tun, sondern holpert im luftleeren Raum vor sich hin. Schade, denn dadurch ist ausgerechnet der wichtige letzte Eindruck nicht positiv und könnte den Blick auf eine insgesamt doch gute Aufführung zu verstellen drohen. Jedenfalls: Das Gesamtexperiment dieses Konzertes ist gelungen - ohne Wenn und Aber.



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