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Klazzik   10.03.2009   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Synergieeffekt: Das gleiche Programm spielte das MDR Sinfonieorchester zwei Tage zuvor schon in Dessau als Abschluß des Kurt-Weill-Festes 2009. Weills kompositorisches Werk zeichnet sich ja bisweilen durch Grenzgängertum zwischen den Ländern der Klassik und des Jazz aus, woraus sich der Titel des Konzertes erklärt, das durch weitere Grenzgängerkompositionen ergänzt wird. Weills Beitrag zum Programm ist seine zweite Sinfonie, geschrieben justament zu der Zeit, als er vor den Nationalsozialisten die Flucht gen Frankreich ergriffen hatte. Der erste Satz stellt ein Sostenuto in epischer Breite vorndran, leichte Düsternis macht sich auch im Allegro molto bisweilen breit, die aber durch saubere lockere Speedparts, oft trompetendominiert, immer wieder aufgebrochen wird. Der Jazz bricht sich hier besonders im Blech Bahn. In der Folge wechselt der Charakter ab und zu ins Schwelgende, fast Cineastische, geschickt arrangierte Tempowechsel (manche vorbereitet, andere beinahe aus dem Nichts hervorschießend) brechen die Stimmung allerdings immer wieder, und der überraschende Satzschluß mit einer hervorschießenden Trompetenfanfare sitzt wie eine Eins. Als Trauermarsch hebt der zweite Satz, ein Largo, an und erzeugt den Wunsch nach einer etwas weniger vorwitzigen Flöte, die da hinter dem Cellosolo zu agieren hat. Ausbrüche bleiben selten, die Düsternis nimmt nur mäßige Schwärzegrade an, ist aber stark gespielt; man sieht nicht etwa Hitler hinten um die Ecke schauen, sondern eine große Leere. Der Ausbruch nach dem Flötensolo trifft den Hörer daher mit der intendierten Wucht eines Keulenschlags, und nur den Übergang in den Schlußton versemmelt das Orchester ein wenig. Dafür revanchiert es sich im dritten Satz und macht auch Dirigent Michael Sanderling (Familientradition verpflichtet) große Freude: Leise Frickelspeedpassagen im Holz werden begierig vom Orchester aufgenommen, ein Marschthema macht sich breit, Weill projektiert einen gekonnten Wechsel zwischen den Elementen, und der schnelle und brillante Schluß setzt dem Ganzen die Krone auf.
Nach der Pause steht das Violinkonzert von Daniel Schnyder an, eines Schweizer Jazzmusikers mit klassischen Ambitionen (oder umgekehrt?), geschrieben für die Violinistin Nora Chastain (weder verwandt noch verschwägert mit dem Gitarristen David T. Chastain ...), welchselbige auch an diesem Abend den Solopart übernimmt. Der erste Satz hat mit "Grave - Con brio" noch einen Titel (die beiden anderen sind nur mit Tempoangaben für die Viertel versehen) und beinhaltet einen epischen Auftakt, bevor er nervöser wird, aber generell immer noch in einer Art tonalen Spektrums bleibt. Viele der speedigen Passagen atmen eine erstaunliche Lockerheit (da kommt dann der Jazzer durch), eine Marimba spielt eine strukturell wichtige Rolle (Schnyder beschäftigt übrigens nur drei Schlagzeuger, was fürs 20. Jahrhundert ja generell recht wenig ist, allerdings an diesem Abend von Weill noch unterboten worden ist, denn der hatte lediglich einen Schlagzeuger besetzt, und dieser spielt ganz in alter Manier nur Pauken, sonst nichts), ebenso wie einige schicksalsschwer tönende Glocken an markanten Plätzen, und es fällt auf, daß, wenn Schnyder Dialoge zwischen der Solovioline und Orchesterinstrumenten konzipiert, der Dialogpartner oft die Celli sind. Das souveräne Spiel Chastains macht besonders die unwirkliche kadenzartige Passage im 1. Satz zu einem recht außergewöhnlichen Hörerlebnis, und die Violinistin spielt zwar temperamentvoll, wirkt aber trotzdem immer harmonisch eingebettet, was besonders im langsamen zweiten Satz wichtig ist, einem episch-melodischen Stück Musik, das nur von wenigen nervösen Ausbrüchen gegliedert wird. Der attacca angeschlossene dritte Satz windet sich um diverse Ecken und läßt im Coolnessfaktor nochmal den Jazzer raushängen - ein Bravo für die in ein langes kirschrotes Kleid gehüllte Solistin.
Bei Dmitri Schostakowitsch gilt es zunächst ein strukturelles Problem zu klären: Das lange Zeit als Jazz-Suite Nr. 2 apostrophierte Stück, das auch an diesem Abend erklingt, ist gar nicht die Jazz-Suite Nr. 2, die 1938 uraufgeführt worden und im Zweiten Weltkrieg verschwunden war. Zwar hatte Mstislaw Rostropowitsch 1988 die Suite dieses Abends in London uraufgeführt, aber sie besteht partiell aus Filmmusik, die erst in den 50er Jahren entstanden ist, also nicht 1938 uraufgeführt worden sein kann. Trotzdem pflegte man das von Rostropowitsch gespielte Stück als Jazz-Suite Nr. 2 zu bezeichnen, bis 1999 der Irrtum herauskam, als ein Klavierauszug der "richtigen" Jazz-Suite Nr. 2 auftauchte, der ein Jahr später in neu orchestrierter Fassung uraufgeführt wurde. Bis freilich die "falsche" Jazz-Suite Nr. 2 sich mit ihrem korrekten Namen "Suite für Jazzorchester" oder auch "Suite für Varieté-Orchester" durchgesetzt haben wird, dürfte noch einige Zeit vergehen (zumal sie während der Irrtumszeit unter dem falschen Namen Eingang in Stanley Kubricks letzten Film "Eyes Wide Shut" fand, sich also außerhalb von Expertenkreisen einer großen Bekanntheit erfreut). Das Programmheft des Abends nennt daher sicherheitshalber beide Bezeichnungen. Aber egal unter welchem Namen nun: In einer derartigen Form wie mit dem MDR Sinfonieorchester unter Michael Sanderling macht dieses Werk einfach nur gewaltigen Hörspaß, und man ist versucht, nach jedem der Sätze aufzuspringen und laut zu applaudieren (was man freilich in Leipzig unterläßt - das das Gewandhaus nicht einmal zur Hälfte füllende Publikum kommt offensichtlich eher aus der klassischen als aus der jazzenden Tradition). Schostakowitsch beschäftigt neben vier Schlagzeugern auch eine gleich große Anzahl an Saxophonisten, einen Akkordeonisten und einmal elektrisch verstärkte Saiten - der Bediener der letztgenannten freilich ist während der gesamten knappen halben Stunde praktisch nicht zu hören und die Akkordeonistin auch nur kurz mal während eines Solos im Lyrischen Walzer. Dafür entfalten die Saxer stilprägende Wirkungen, spätestens mit ihren irren Soli in Tanz 1 an Setposition 2, die den Tanz eher an einen Circle Pit erinnern lassen. Da hat man den eröffnenden Marsch schon hinter sich, blechdominiert, optimistisch und in einem Tempo, als hätte man dem Orchester Siebenmeilenstiefel spendiert, mit denen man in ein paar Minuten von Leipzig nach Leningrad gelangen könnte. Der Tanz 2 an dritter Position nimmt das Tempo etwas heraus, kombiniert etwas epischere Passagen mit herben Einwürfen, während die folgende Kleine Polka eine besondere Kombination auffährt: Unterschwellig liegt ein immenses Speedtempo unter dem Stück, auch wenn das Xylophonsolo nur ein mäßiges Tempo vorgibt - schizophren, aber erstklassig ausgestaltet und nicht minder brillant vom Orchester umgesetzt. Der Lyrische Walzer klingt nach Johann Strauß mit Saxophonsoli und einer starken Blechdominanz (hätte Strauß so etwas komponiert, wenn er ein Jahrhundert später gelebt hätte?), der Walzer 1 beschleunigt nur unwesentlich, gerät aber streicherlastiger und etwas düsterer, bevor das Ende doch noch etwas mehr Druck entfaltet. Der Walzer 2 ist derjenige, den Kubrick in seinem Film eingesetzt hat - eine leicht energischere Variante des ersten Walzers, allerdings mit ein paar minimalen Verschleppungen, die Sanderling auch perfekt herausmodelliert. Das kurze und knackige Finale, wieder mit Xylophonsoli veredelt und eine flotte Kombination aus leichteren und lärmigeren Parts darstellend, setzt den perfekten Schlußpunkt, nach dem tosender Beifall losbrandet - verdientermaßen, denn solche Grenzgängerprogramme hört man selten und noch seltener in derart bestechender Qualität.



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