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Ruzicka   10.02.2009   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Es gab Zeiten, da war man als Komponist gezwungen, seine Werke auch selbst zu dirigieren - weil es sonst nämlich niemand anders gemacht hätte. Das ist im heutigen Klassikbetrieb bekanntermaßen anders, aber es gibt immer noch den Typus von Musikern, die gleichermaßen dirigentisch wie kompositorisch begabt sind und ergo die Gelegenheit nutzen, bei der Aufführung eigener Werke auch selbst am Pult zu stehen oder umgekehrt in von ihnen dirigierten Programmen auch eigene Werke auf die Agenda zu setzen. Das ältere Leipziger Konzertpublikum kennt diese Praxis noch aus den Zeiten, als Herbert Kegel Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters war und sich häufig Komponisten als Dirigenten ihrer eigenen Werke ans Pult holte. Heute heißt das Rundfunk-Sinfonieorchester MDR Sinfonieorchester, und an diesem Abend steht mit Peter Ruzicka ein Mann mit der entsprechenden Doppelbegabung am Pult, der zudem für die Ausgrabung selten zu hörender Werke steht. Mit einem davon beginnt das 4. Rundfunkkonzert der Saison 2008/2009 auch gleich, nämlich dem Psalm 13 in der Vertonung von Alexander von Zemlinsky, dem Quasi-Bindeglied zwischen Johannes Brahms und Arnold Schönberg. Spätromantische Chorsinfonik ist das, angedüstert bis schwingend beginnend, auch der MDR Rundfunkchor setzt leise und in gegeneinander geführten männlichen und weiblichen Stimmen ein, bevor man mit einer typischen großen spätromantischen Steigerung in den Hauptteil gerät, der hin und her wogt, vier Schlagzeuger beschäftigt, den Bombast auf "Schaue doch ..." auch noch mit Orgelklängen (der Altenburger Schloßorganist Felix Friedrich erledigt einen tadellosen Job) steigert, immer wieder aber in sanfte Verharrungen zurückfällt. Nach "darniederliege" beginnt ein langer Instrumentalpart, der Widersacher pocht und trotzt, verliert den Kampf aber letztlich. Überraschend zurückhaltend gestaltet Zemlinsky die letzte Zeile "Ich will dem Herren singen, daß er so wohl an mir tut" - kein Triumph, sondern eher ein langsames Aufrichten des Hauptes, was auch die schwerfälligen Wendungen im Schlußbombast offenbaren. Interessantes Stück, gute Umsetzung.
"Recherche (- Im Innersten)" nennt sich Ruzickas eigenes Stück in der Setlist, es stammt eigentlich aus seiner Oper "Celan" und bildet dort den mittleren von sieben großen Abschnitten, die nicht etwa Celan-Gedichte umsetzen, sondern nach Spuren des großen jüdischen Dichters suchen und dessen Einflüsse nachzuzeichnen versuchen. Eine szenische Handlung gibt es in diesem Teil der Oper nicht, auch keine Gesangssolisten, so daß dieser Teil als chorsinfonisches Werk eine Art Eigenleben führt. Der Chor wird dabei mit einer Ausnahme ausschließlich in Vokalisen geführt, die meist paßgenau sitzen und lediglich am Anfang bei den Frauenstimmen mitunter zu sehr ausfasern. Der Beginn des Stückes ist generell sehr zerrissen, allerdings kann die magische Wirkung der Generalpausen wegen der latenten Unruhe im Saal und der hohen Erkältungsquote nicht erreicht werden. Letztlich gewinnen die lärmigeren Passagen die Oberhand, und nach einigen Minuten beginnt man auch deren Struktur zu verstehen und stellt fest, daß die Breakdichte zwar abgenommen hat, aber die Breaks genau dort sitzen, wo man sie erwartet. In diesen hört man dann auch den Chor wieder, der ansonsten gegen das Blech trotz erhöhten Standes auf der Orgelempore akustisch weitgehend verloren ist. Dafür besitzt er im Mittelteil besonderes Gewicht, wenn er über unheimlich wirkenden Orchesterteppichen das Wort "Jerusalem" zu singen hat (auf einen zentralen Einfluß des spätesten Celan-Werkes hinweisend) und von einzelnen Schlägen untergliedert wird. Der dritte Teil entspricht in seiner Grundstruktur (die man ja mittlerweile verstanden hat) dem ersten, die fünf Schlagzeuger haben Schwerstarbeit zu verrichten (selbst vor der "singenden Säge" schreckt Ruzicka nicht zurück, und die bahnt sich mit einem durchdringenden Ton den Weg zum Ohr des Hörers), ein überdimensionaler Fleischklopfer setzt drei besonders brutale Schläge, und danach pegelt sich alles auf einem einheitlichen Level ein, das keine Entwicklung mehr erkennen läßt, quasi in einer Art Agonie versinkt und unvermittelt mit einer kurzen Solosequenz in den 1. Violinen beendet wird. "Mathcore meets Ambient" würde man das Stück einschubladisieren, wenn es in einem anderen Genrekontext geschrieben worden wäre, und Ruzickas Dirigat fällt dadurch auf, daß er mit den Fingern häufig Ziffern anzeigt, wann bestimmte Parts weitergehen sollen.
Nach der Pause kommt Zemlinskys großes Vorbild Johannes Brahms mit seiner 2. Sinfonie D-Dur zum Zuge, im Gegensatz zu seinem gequälten Sinfonieerstling ein eher gelöstes und positiv gestimmtes Werk. Ruzicka nimmt den ersten Satz trotzdem recht langsam und muß über kleine Tightnessprobleme im Intro hinwegsehen, auch die Hörner sind noch zu trocken, schwingen sich aber später in den Soloparts zu einer richtig guten Leistung auf. Der große Emotionsbogen im 1. Satz gelingt aber nicht ganz, obwohl die etwas energischeren Passagen die intendierte Funktion durchaus erfüllen und auch die Lockerheit im großen Zupfpart stimmt. Das Adagio siedelt Ruzicka auf einer Art Zwischenstufe an - er hält sich sowohl von der Finsternis als auch von der romantisch-düsteren Seite fern, dafür gelingen ihm die großen rauschenden Wogen des Mittelteils ausgezeichnet. Die Lebendigkeit der hübschen kammermusikalischen Parts zu Beginn des Allegretto transferiert der Dirigent erfolgreich in die Vollorchesterparts und das recht schnelle Tempo des Allegretto ebenso erfolgreich ins abschließende Allegro con spirito, in dem er auch ein gutes Händchen für die Lautstärkefeinabstimmung beweist. Der Energiegehalt paßt, die Generalpause im Schlußtriumph fällt kurz aus, aber sie ist da, und einzelne Bravi aus dem Publikum honorieren eine insgesamt sehr "runde" Aufführung.



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