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Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen   02.11.2008   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Der etwas skurril anmutende Titel geht auf eine Komposition des justament verstorbenen Mauricio Kagel zurück, der als Begleitmusik zum Hörspiel "Der Tribun" ebenjene zehn Märsche schrieb, allerdings anordnete, daß im Falle einer konzertanten Aufführung niemals alle zehn hintereinander gespielt werden sollen. Ergo knobelte die Programmdenkerfraktion beim Landesjugendorchester Sachsen ein ausgeklügeltes Schema aus, dessen vorangekündigte Fassung gar noch ausgeklügelter war als die letztlich gespielte, denn sie hätte tatsächlich zehn Märsche in der ersten Hälfte des Programms enthalten, sieben von Kagel und dazwischen drei andere, auf die noch einzugehen sein wird. Aber das Konzept stellte sich offenbar als unpraktikabel heraus, und so reduzierte man die Kagel-Märsche im Hauptprogramm auf vier, stellte dafür aber eine halbe Stunde vor Konzertbeginn eine kleine, etwa zehnköpfige Kammerbesetzung ins Foyer des Gewandhauses, ließ sie dort zwei weitere der Kagel-Märsche spielen und bereitete somit das Publikum schon ein wenig auf das vor, was dann im Hauptprogramm folgen sollte.
Kagels Intention, also eine antimilitaristische, ist aus dem Titel seines Werkes ja deutlich genug ablesbar, und so gestalten sich diese Märsche denn auch, nämlich nach folgendem Grundprinzip: Ein bis drei Viertel des Orchesters, mitunter auch noch mehr, spielen eine klassische Militärmarschstruktur, der jeweilige Rest der Musiker aber wirkt als Störfaktor, der den zackigen Charakter erfolgreich torpediert - sei es, daß der Schlagzeuger plötzlich klingt, als hätte er zuviel Free Jazz gehört, sei es, daß der Trompeter voll danebengreift, sei es, daß gleich die Hälfte des Orchesters in düstere Agonie verfällt, anstatt fröhlich in die Schlacht zu marschieren. Und an der Erzeugung dieser paradoxen Situationen haben die jungen Musiker des Landesjugendorchesters Sachsen, also die regionale Nachwuchselite, offensichtlich ihren gehörigen Spaß. Marsch 1 gehört zu der Kategorie, wo eher einzelne Musiker als "schräge Vögel" agieren dürfen, Marsch 2 zu den bisweilen eher agonistisch angehauchten. Zwischen den einzelnen Stücken hat die Programmdenkerfraktion aber noch kurze thematisch passende und zum Nachdenken anregende Wortbeiträge plaziert, teils solche, die auf einem Zusatzblatt dem Programmheft beigelegt sind (von Bismarck über Thomas Mann bis zu Kagel selbst), teils aber auch solche, die dort eben gerade nicht stehen (z.B. die aktuellen Wahlergebnisse der NPD in Sachsen). Und noch ein Kontrast bricht sich Bahn: Nach Kagels zweitem Marsch folgt der "Marche des Combattants" des italienischstämmigen, aber in Frankreich unter Sonnenkönig Ludwig XIV. gewirkt habenden Jean-Baptiste Lully - ein echter Marsch also, kein klassisch-militärischer zwar wie meinetwegen der Fehrbelliner Reitermarsch, aber schon einer ohne jeglichen ironischen Gestus, in kleiner Besetzung und barocker Manier gekonnt vom Orchester dargeboten. Nächster Kontrast: "Wutpunkt", ein Stück von Jorge García del Valle Méndez als Uraufführung (bzw. Drittaufführung - das Programm war an den beiden Tagen zuvor schon in Sondershausen und Radebeul gespielt worden), mit dem der 1966 geborene Komponist den 1. Preis des 4. Sächsischen Kompositionswettbewerbes eingeheimst hatte. Ebenjene Wutpunkte bilden in Form einzelner Orchesterschläge eines der tragenden Elemente innerhalb der Komposition, die sich allerdings äußerst vielschichtig zeigt. Die bombastisch-dramatische Einleitung hätte auch noch in einen Kriegsfilmsoundtrack gepaßt, aber der Totalzusammenbruch läßt nicht lange auf sich warten, der Ambientpart wirkt eher agonistisch als entspannend, zwischen die wütenden Schläge mischt sich auch noch Flamenco, und immer wieder entspinnen sich Scheinidyllen, die schnell wieder ad absurdum geführt werden. Auch der interessante Fagottdialog wird schnell wieder niedergemäht, der Schlußteil arbeitet dann zwischen den Schlägen gar noch mit der Resonanz der Instrumente, bevor das Stück wieder in der Agonie versinkt. Man hört ihm deutlich an, daß der Komponist auch Erfahrungen in der Rockmusik haben muß (die Schlagzeugarbeit genügt als deutliches Indiz) - wenn man das Ganze mal übersetzen will, wandelt sich Epic Metal zu Ambient, der dann mit Doomprog und Mathcore den Rest unter sich ausmacht. Anstrengend zu hören ist's freilich, aber das soll auch so sein, und das Ohr bekommt mit dem zweiten Lully-Marsch "Marche des Assiégeants" dann eine Erholungspause, welche die Fortspinnung der Hörerfahrung seit dem Barock erst so richtig als Paradoxon ans Ohr holt (der Marsch selbst ist eher kurz, elegant französisch und recht trompetendominiert - und das Paradoxon ist halt, daß sich das Ohr nun ausgerechnet zu richtiger Marschmusik entspannt). Danach wieder Kagel: Marsch 3 legt einen gekonnten Rhythmusteppich aus Kontrabässen und zwei Tuben, auf dem diverse andere mäßig schräge Bläser die Flecken bilden, und Marsch 4 letztlich gehört rhythmisch zur hypernervösen Sorte (man stelle sich ein marschierendes Bataillon Epileptiker vor), in dem wiederum Bläser und Trommler dominieren. Symptomatisch der Schluß: Alle spielen einen Schlußakkord - ein einzelner Beckenschlag und ein Tubarülpser nach dem Schlußakkord aber sorgen für den nötigen Unernst, der trotz des ernsten Anliegens die karikierende Stimmung wohl am überdeutlichsten macht. Ein ambitioniertes Programm, aber ein interessantes und vielleicht sogar ein notwendiges.
Deutlich konventioneller präsentiert sich die zweite Hälfte des Abends, denn da gibt's nur ein Werk, allerdings auch eines, dem man nicht so sehr häufig begegnet: die Sinfonie d-Moll von Cesar Franck, seine einzige. Warum man ausgerechnet die ausgegraben hat, wird deutlich, wenn man sich Francks ambivalente Position vor Augen führt: Als Deutscher wurde er zur zentralen Figur der französischen Musik des 19. Jahrhunderts - in einer Zeit also, da man noch Theorien von Erbfeindschaft und ähnlichen Konstruktionen anhing und sich permanent etwa um Elsaß-Lothringen stritt. Franck als Weltenwanderer paßt somit bestens zur Aussage der ersten Programmhälfte. Drei Sätze hat die Sinfonie, und die butterweichen Streicher im eröffnenden Lento verdienen sich ein Sonderlob, während das Holz einen Tick zu trocken und ruppig agiert. Zwei gut ausgespielte Steigerungen folgen und leiten in ein Allegro non troppo über, das zwar mit guten raumgreifenden Parts besticht, aber auch die einzigen kleinen Streicherschwächen offenbart - sie spielen mitunter etwas zu konturlos, zu teppichartig, wogegen auch der engagiert und deutlich dirigierende Milko Kersten letztlich nicht entscheidend angehen kann. Aber solche Momente sollen selten bleiben, und spätestens der gelungene Triumph am Ende des ersten Satzes versöhnt, wenngleich er komisch strukturiert ist - man merkt halt, daß Franck doch kein typischer Sinfoniker ist. Ein Mahler hätte sich minutenlang um den Triumph gewunden, Franck legt kurz den Energieschalter um, und dann ist plötzlich Schluß. Dafür gibt's ein zauberhaftes Allegretto hinterher, in dem es Kersten und seine jugendlichen Mitstreiter schaffen, so entspannt wie nur möglich zu musizieren, auch wenn die Violinen seine ganze zweite Hälfte lang nur irre schnelle Läufe im Pianissimo zu spielen haben. Dafür das nächste Sonderlob, und der Kontrast zum abschließenden Allegro non troppo mit seinem dynamischen Anfangspart sitzt natürlich auch wie eine Eins. Das Allegretto scheint noch mehrmals herüber, der Rhythmus wird aber wieder härter, und selbst die Holzbläser können eine Steigerung verbuchen. Kersten drosselt das Tempo im mittleren triumphartigen Teil geschickt, damit die Durchschlagskraft noch vergrößernd und ein klein wenig Dynamik für den Schluß aufsparend, der ähnlich trocken auskomponiert ist wie der des ersten Satzes. Das tut dem herzlichen Beifall des Publikums im leider wieder mal nur äußerst mäßig gefüllten Gewandhaus aber keinen Abbruch und sollte Mut machen für weitere originelle Programme. Für das Frühjahrsprojekt 2009 ist jedenfalls schon eins gefunden: "Von Wien nach Transsylvanien ... und zurück" mit Bartók, Mozart, Ligeti und Brahms. Aktuelle Infos kann man sich laufend auf www.saechsischer-musikrat.de holen.



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