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free@heart.abg   07.09.2008   Altenburg, Theater
von rls

"Prinzenraubmusical" kursierte als eine Art Arbeitstitel für dieses Stück, und das stellt eine strukturelle Chance wie eine strukturelle Bürde dar. Dem nicht explizit mit der altenburgischen Regionalgeschichte vertrauten Leser sei zunächst der geschichtliche Hintergrund kurz umrissen: Anno 1455 entführte Kunz von Kauffungen (im gängigen Sprachgebrauch als "Ritter" apostrophiert) die Söhne des sächsischen Landesherrn Kurfürst Friedrich II. aus dem Geschlecht der Wettiner, die Prinzen Ernst und Albrecht, aus dem Altenburger Schloß, um damit seiner Forderung nach einer finanziellen Entschädigung für den Verlust von Gütern und Geld aus dem fünf Jahre zuvor beigelegten Sächsischen Bruderkrieg, in dem er auf Friedrichs Seite gegen dessen Bruder Wilhelm gekämpft hatte, Nachdruck zu verleihen. Die Entführer wurden allerdings im Erzgebirge gefaßt und Kunz nur eine knappe Woche später ohne Gerichtsurteil in Freiberg hingerichtet. Dieses Geschehen fassen die Stadt Altenburg und das mit dem Geraer vereinigte Altenburger Theater seit dem 550. Jubiläum des Geschehens anno 2005 jährlich in einem Open Air-Theaterstück auf dem Schloßhof zusammen, bei dem zahlreiche "einfache" Altenburger als Komparsen mitwirken - so offensichtlich auch diejenigen, die nun zu den zentralen Figuren des Musicals "free@heart.abg" geworden sind: ganz normale Jugendliche aus der Stadt. Barbara Volkwein, für die Jugendarbeit des Theaters zuständig, klemmte sich hinter die Stückidee und wandelte sie in ein Libretto um, und der Münchener Komponist Christian Cieslak schrieb die Musik zu einem Musical, das mit sieben Vorstellungen auf der kleinen Bühne des Altenburger Theaters, dem sogenannten Heizhaus, gespielt wurde - und großen Erfolg hatte, denn von den 130 Plätzen im Zuschauerraum blieb nahezu nie auch nur einer leer.
Das Besondere am Stück ist nun, daß es sich ausschließlich um ein Jugendstück handelt - die einzigen Erwachsenen, die mitspielten, wurden in einer Nachrichtensendung des lokalen TV-Senders eingeblendet, wobei sich Moderatorin Antje Arpe, selbst lange Zeit auch Schauspielerin am Theater gewesen, quasi selbst spielte. So bildete die jugendliche Erlebniswelt einen zentralen Platz im Kanon des Stückes - und die entpuppte sich beim zweiten Blick als äußerst düster, wenngleich anders düster als die Erwachsenenwelt. Deren Hauptkonflikt folgt den Parallelen des Prinzenraubes: Die Großbäckerei von Innungsobermeister Erzberger hat die traditionsreiche Bäckerei Konzelmann mit windigen Methoden plattgemacht, was nicht nur den nur indirekt auftauchenden Konzelmann, sondern auch seine Tochter Marie in Depressionen stürzt, zumal sie auch noch in Erik, den Sohn des Innungsobermeisters, verliebt ist, was auch auf Gegenseitigkeit beruht, wenngleich Erik arge Schwierigkeiten hat, aus dem Schatten seines Vaters zu treten, was auch auf seinen jüngeren Bruder Albert zutrifft. Nun verschwinden allerdings einige der Protagonisten, erst Konzelmann (in Richtung der hochprozentigen Flasche), dann seine Frau (ins Frauenhaus oder an andere sichere Orte), dann Erik und Albert und schließlich auch noch Marie. Das ruft den Kreis von Jugendlichen auf den Plan, in dem sich Erik, Albert und Marie sonst bewegen und der trotz aller sozialer und interessenseitiger Unterschiede doch irgendwie ein zusammenschweißendes Band beinhaltet, und man startet eine Suchaktion, in deren Rahmen Erik und Albert, die sich unterdessen in Konzelmanns Keller selbst befreit und dabei noch belastendes Material gegen ihren Vater gefunden haben, wieder auftauchen; auch Marie kommt wieder, während Erzberger in Polizeigewahrsam genommen wird. Erik und Marie kriegen sich, soviel sei verraten - das ist aber auch der einzige Konflikt im Stück, der gelöst wird, worauf Maries letzte, im Off verhallende Frage "Und mein Vater?" hinweist. Schon zuvor aber sitzt Maries beste Freundin Lilly, als alle Eriks und Alberts Wiederkehr feiern, mit Leichenbittermiene auf der Treppe - sie liebt Erik ebenfalls, und obwohl sie und Marie sich einig sind, daß sie Erik der jeweils anderen "abtreten" würden, so ist das offensichtlich emotional doch nicht so einfach. Aber diese kleine Dreiecksgeschichte ist nur das Salz der gesamten Suppe, die das Publikum hier mit Begeisterung auslöffelt, ohne zu merken, was da eigentlich für ein gigantischer Problemkomplex dahintersteckt. Wenn 90 Jugendliche im Chor "Wir wollen raus aus dieser Stadt" singen (wegen Perspektivlosigkeit und Freiheitsdrang, die sich scheinbar die Hand geben, ohne daß man sieht, wie erstere letzteren nur vor sich herschiebt, um sich nicht zu erkennen zu geben) und dieses Stück noch mit einer geradezu bedrohlichen physischen Präsenz herüberbringen, müßte man als Erwachsener im Publikum eigentlich nicht fröhlich rhythmisch mitklatschen, sondern ob dieser schonungslosen Radikalität zur Salzsäule erstarren. Neben dem Prinzenraub als gewisse strukturelle Hangelhilfe und den üblichen Kinder-Detektiv-Verdächtigen von TKKG bis "Emil und die Detektive" schleichen sich also auch noch andere Einflüsse ins Stück ein, die man nicht aktiv auf den ersten Blick (allenfalls emotional) wahrnimmt, etwa gar "norway.today", das derzeit ebenfalls in Altenburg gespielt wird. Aus einem harmlos anmutenden Plot wird so plötzlich ein gigantischer Problemkomplex, der in den reichlich anderthalb Stunden nur angerissen werden kann und wie beschrieben nur partiell gelöst wird, den sensiblen Zuschauer aber hochgradig zu verstören in der Lage ist. Die Aktionsfront der Jugendlichen und ihr Freiheitsdrang enden jedenfalls im Nichts, nachdem die Aufgabe der Wiederfindung von Erik und Albert gelöst ist - da aber ist das Stück dann schon zu Ende, der Schlußchor schaut nur in die Vergangenheit, alle Zukunft bleibt ein Traumbild und der postulierte Freiheitsdrang ebenso. Daß die Figur von Maries Träumen durchaus Elemente des Todes beinhaltet, paßt da perfekt ins Bild, wenngleich offene suizidale Anspielungen einzig von einem der Gruppenmitglieder kommen - es ist der Rockmusiker der Truppe, der sich wohl nicht umsonst intensiver mit diesem in der Rockwelt häufiger als in allen anderen musikalischen Genres behandelten Thema auseinandergesetzt hat, aber am Stückende ebenfalls noch am Leben ist und in den Freiheitschor der Jugendlichen einstimmt, der, wie zahlreiche der Einzelszenen bewiesen haben, nur hohles Pathos darstellt (perfektes Bild: Einige der jüngeren Kinder wollen nicht mehr beim "Scheiß-Prinzenraub" mitmachen, sondern etwas anderes tun - Frage aus den Reihen der größeren Kinder: "Und was?", gefolgt von betretenem und lange ausgespieltem Schweigen) und nicht umsonst in der Aufforderung ans (erwachsene) Publikum gipfelt, zu warten, man würde hinterherkommen (und, was an dieser Stelle natürlich nicht gesungen wird, schnell die Verhaltensweisen der Erwachsenenumgebung annehmen - aber auch das ist verdeckt im Stück schon gesagt worden). Dieser "Freiheitschor" und das erwähnte "Wir wollen raus aus der Stadt" müssen aufgrund des enthusiastischen Applauses des Publikums sogar als Zugabe wiederholt werden, womit man seine emotionale Zerrissenheit, sofern vorhanden, gelungen überspielen kann.
Die vorgenannten Ausführungen sagen natürlich nichts über die Qualität des Stückes aus - trotz einiger logischer Löcher (z.B. warum Konzelmann das belastende Material gegen seinen Konkurrenten Erzberger im eigenen Keller lagert, anstatt es vor Gericht vorzulegen, oder warum Erik und Albert bei ihrer Selbstbefreiung sofort wissen, daß sie in Konzelmanns Keller sind) ist die nämlich durchaus im grünen Bereich anzusiedeln. Letzteres trifft auch ohne Umschweife auf die Musik Cieslaks zu - Classic Rock vom Feinsten, nicht selten hymnisch (gerade "Wir wollen raus aus der Stadt" könnte sich in der Jugend schneller verbreiten, als manchem Soziologen und Demographen lieb ist), fast immer eingängig, bisweilen mit moderneren Elementen wie rapartigem Sprechgesang flirtend und auch gekonnte Disharmonien einstreuend (daß gerade die beiden scheinbar unzertrennlichen Freundinnen in der Gruppe, die auch noch sehr ähnlich aussehen, wohingegen alle anderen Figuren ein eigenes Profil verpaßt bekommen haben, eine solche Disharmoniepassage übertragen bekommen haben, spricht Bände bezüglich des unterschwelligen Konfliktpotentials im Stück, das noch nicht einmal größer angelegt angesprochen worden ist), hervorragend umgesetzt von einer überwiegend jugendlich wirkenden vierköpfigen Band mit Schlagzeug, Gitarre, Baß und Keyboards (an letzteren saß Theaterkapellmeister Thomas Wicklein als musikalischer Leiter, den man in seiner "Rockerverkleidung" kaum wiedererkannte), die der Soundmensch gegen Ende hin leider ein wenig zu laut drehte, damit manche Gesangseinsätze übertönend. Die Chöre wirkten sowohl in ihrer Wucht als auch in vielen Details, die einzelnen Solisten hatten alle irgendwo ihre Stärken, und auch die spielerische Leistung war aller Ehren wert. Man mußte sich gedanklich nie rechtfertigen, daß man ja in einem Jugendtheaterstück mit (von einigen wenigen Musicalstudenten der Leipziger Musikhochschule abgesehen) zwölf- bis achtzehnjährigen nonprofessionellen Schauspielern sitzt - und man mußte sich ebenfalls nie gedanklich rechtfertigen, daß man in einem integrativen Theaterstück sitzt, denn auch die behinderten Jugendlichen der Regenbogenschule Altenburg, welche die eingeschobenen historischen Teile übernahmen und dabei durchaus nicht anspruchslose Texte, bisweilen gar in "historischer Ausdruckspraxis", zu bewältigen hatten, machten ihre Sache ausgezeichnet. Das Stück hätte eine größere Verbreitung zweifellos verdient, was aber vermutlich am überregional wenig präsenten Prinzenraubthema scheitern wird - selbiges ist nicht deutlich genug angelegt, daß der auswärtige Besucher quasi eine Art verkapptes Historiendrama der heutigen Zeit sieht, aber es ist doch so omnipräsent, daß man es nicht auf eine neutrale Basis herunterschrauben oder ganz eliminieren kann. Der Rezensent läßt sich gerne vom Gegenteil überzeugen, und da stört es auch nicht, wenn nicht alle Besucher den gewaltigen Konfliktstoff überhaupt als solchen erkennen. Theater hatte mal den Anspruch, dem Besucher die Welt zu erklären - hier ist ein kleiner Ansatz dafür, für die Welt der Jugend, ein ganz kleiner.



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