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Amen   11.02.2007   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Hinter diesem erstmal in alle möglichen und unmöglichen Richtungen interpretierbaren Titel verbarg sich nicht etwa ein Gig der gleichnamigen, recht lärmig veranlagten US-Band (der lokationsseitig wohl auch nicht so richtig ins Gewandhaus gepaßt hätte), sondern ein Programm mit Gospels und Spirituals. Das klang auf den ersten Hör noch nicht zwanghaft interesseweckend, aber ein hochkarätiges Billing versprach dann doch einiges, und so füllte sich das Gewandhaus sehr ordentlich und zudem augenscheinlich mit einem den normalen Publikumsaltersdurchschnitt doch etwas unterschreitenden Auditorium.
Der Eröffnungsteil des Konzertes gehörte zunächst allein dem GewandhausChor samt dessen Leiter Morten Schuldt-Jensen. Sechs A-Cappella-Stücke standen in diesem Teil auf dem Programm, allesamt bekanntheitsgradtechnisch (nicht qualitativ!) positiverweise aus der zweiten Reihe stammend und sich daher vom befürchteten Greatest Hits-Potpourri schon mal in der richtigen Richtung abhebend. Dazu lieferte Morten eine gleichermaßen informative wie humorvoll-lockere Moderation (daß seine Ankündigung, das Konzert werde ein besonderes sein, was das Publikum spätestens an seinem Ende in drei Stunden feststellen werde, spielzeittechnisch gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt liegen sollte, dürfte zum Zeitpunkt dieser Ansage wohl noch kaum jemandem bewußt gewesen sein), das Ensemble gab sich vokalerseits erwartungsgemäß keine Blößen, auch wenn es sich in diesem Fall um die kammermusikalische Gospelsparte handelte, also den "kontrollierten", zugunsten einer klaren Durchstrukturierung weniger expressiv gefärbten Gospel (eine theoretische Diskussion über den Terminus Gospel bzw. seine musikwissenschaftliche oder musikpraktische Einordnung sei an dieser Stelle vermieden). Für den musikwissenschaftlichen Part sorgte Morten dann im nächsten Teil selbst, seinen Chor sowie den hinzustoßenden Trommler Kasper Langkjaer als praktisches Anschauungsobjekt einsetzend und dem Publikum in einer vergnüglichen musikwissenschaftlichen wie musikpraktischen "Vorlesung" die Entstehung und den Aufbau des typischen Black Gospel näherbringend. Das Publikum durfte sich zum eigenen Amüsement hierbei auch schon selbst sängerisch mit einbringen; dennoch fungierte dieser Part mehr als eine Art Überleitung zum eigentlichen Hauptact des Abends, nämlich der Sängerin Etta Cameron samt ihrer vierköpfigen dänischen Band, wobei die farbige Sängerin zunächst allein die Bühne betrat und mit einer äußerst expressiven Interpretation von "Kumbayah My Lord" die Weichen klar in Richtung des klassischen Black Gospel zu stellen schien - "zu stellen schien" aus zwei Gründen, einem offensichtlichen und einem nur bei genauer Beobachtung wahrzunehmenden. Der offensichtliche war der, daß der Chor auf der Bühne blieb, quasi den Backgroundchor für Etta stellte und damit auf kammermusikalisch präzises Handwerk Wert zu legen hatte, denn wäre die Band als Ettas Begleitung allein zweifellos in der Lage gewesen, sich jeweils operativ improvisatorisch auf die neue Lage einzustellen, so ist das unter Hinzunahme eines 25köpfigen Chores (zumal eines, der nicht schon seit 20 Jahren mit der Sängerin on the road ist) eine immens schwere, wenn nicht gar unlösbare Aufgabe, soll das Endergebnis nicht ein gewisses chaotisches Element beinhalten. Somit kam es also praktisch scheinbar zu einer Verbindung von "best of both worlds", des Kontrollierten und des Spontanen - aber eben nur scheinbar, und damit wären wir beim anderen Grund: Wenn man genau hinsah, entdeckte man, wie Etta auch in Momenten der scheinbar intensivsten religiösen Verzückung, des Eindruckes spiritueller Ekstase und gleichermaßen im- wie expressiven Ausdruckes nach hinten heraus mit winzigen Gesten dem Chor bzw. Morten anstehende Breaks oder das Ende einer möglicherweise tatsächlich als solche angelegten Improvisation mitteilte. Soll heißen: Man bekam als Zuschauer zumindest partiell eine fast perfekte Illusion vorgespielt. Das trübte den Mitklatsch- bzw. Mitsingelan des Auditoriums nicht, denn man kam irgendwie nie auf die Idee, aus dieser Erkenntnis heraus (wenn man denn überhaupt so weit gedrungen war, sie überhaupt treffen zu können) der Künstlerin einen Strick drehen zu wollen. Im Gegenteil: Das lediglich von sanften Pianoakkorden unterlegte, den expressiven Höhepunkt des Konzertes markierende "Vater unser" konnte man, so man nicht zur bekennenden Agnostikerfront gehörte (die zahlenmäßig an diesem Abend aber eh gering bis nonexistent gewesen sein dürfte), durchaus als Ausdruck des wehenden Heiligen Geistes übersetzen, zumal sich Etta und der Pianist Mads Demant eh blind zu verstehen schienen und es hier der ordnenden Hand gar nicht erst bedurfte. Der Rest des Programms bestand weiterhin erfreulicherweise eher aus zweitreihigen Werken in erstklassigen Interpretationen (der Rezensent fühlte sich angehörs von "Sanna sannanina" doch glatt wieder 15 Jahre jünger und in die Zeiten der christlichen Jugendarbeit in seinem Kirchenbezirk zurückversetzt), Band wie Chor legten einen ausgezeichneten Job hin, Morten sprang in den wilderen Passagen vor dem Chor umher wie von der Tarantel gestochen, und Ettas Stimme war die einzige, die soundlicherseits mitunter kleine Wünsche offenließ, indem sie manchmal schlicht und einfach zu weit im Hintergrund stand, speziell dann, wenn Kasper einen etwas flotteren Beat anschlug (man verstand allerdings auch ihre Ansagen teilweise relativ schlecht). Knappe zweieinhalb Stunden sollten vergehen, bis mit "Amen" der zu erwartende Setcloser angestimmt wurde, der allerdings das Publikum endgültig derart enthusiasmierte, daß es mit stürmischem Applaus die Wiederholung des Titelsongs einforderte und die Gesamtspielzeit damit auf ca. 160 Minuten hievte, was also letztlich gar nicht mehr weit von den von Morten scherzhaft angekündigten drei Stunden entfernt lag. Trotz der genannten Einschränkungen, vielleicht aber auch gerade wegen der gewonnenen Erkenntnisse ein denkwürdiger Konzertabend.



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