www.Crossover-agm.de Nemo, Solid   23.06.2006   Jena, F-Haus
von rls

Ein hochgradig interessantes Projekt verbirgt sich hinter dem Namen Nemo: Der Name verrät dem Kundigen schon, daß es irgendwas mit Nightwish zu tun haben könnte, und tatsächlich sind Songs von Nightwish die eine Stütze des Projektsets, der mit Evanescence noch eine zweite zur Seite gestellt wurde. Komme aber niemand und vermute, daß die Songs nun einfach so nachgespielt würden - man holte sich zur normalen Rockbandbesetzung nämlich noch einen knapp zehnköpfigen Chor sowie ein ebenfalls knapp zehnköpfiges Ensemble mit klassischen Instrumenten hinzu, den Umstand ausnutzend, daß sowohl Nightwish als auch Evanescence ihre Songs mit einem teilweise sehr starken orchestralen Background versehen haben. Das klang in der Theorie also schon mal sehr vielversprechend, und daß ein solches Projekt nicht aus einer rockenden Hochburg wie dem Ruhrgebiet oder dem Stuttgarter Raum (oder gar dem für solche Projekte generell empfänglichen Finnland) kam, sondern aus dem beschaulicheren thüringischen Jena, gehörte zu den positiven Treppenwitzen der Musikgeschichte. Das publikumsseitige Interesse war letztlich so groß, daß gar keine Abendkasse mehr aufgemacht wurde, da die 800 Tickets allesamt schon vorab weg waren, wobei sich das Crossoverpotential von Evanescence und Nightwish dahingehend äußerte, daß zwar eher weniger Besucher aus der Klassikfraktion anwesend waren, sondern eher welche aus der Rockfraktion, letztere aber allen möglichen und unmöglichen Sparten entstammten - vom Gothic-Girlie bis zum bitterbösen Blackmetalshirtträger sah man jede Schattierung.
Der Rezensent hatte bei der Anreise zunächst den taktischen Fehler begangen, ein "Staugefahr in einer Umleitung"-Warnschild nicht ernst genug zu nehmen, was ihn den nahezu kompletten Set des Supports Solid kostete - was da in den letzten 30 Sekunden noch zu vernehmen war, reichte natürlich nicht für eine Bewertung aus. Hernach war gespanntes Warten angesagt, bis Nemo endlich zu einem (wohl nicht aus dem Fundus der beiden Originale stammenden) orchestralen Intro einzogen, das nur den strukturellen Nachteil hatte, daß es bereits zu Ende war, als noch nicht mal die Hälfte der Musiker auf der Bühne angekommen war. Es dauerte also noch eine spannungsgeladene kleine Weile, bis die Truppe mit "Bless The Child" endlich in die Vollen gehen konnte und gleich mit diesem Opener eine eindrucksvolle Stärken-Schwächen-Analyse möglich machte. Die Beteiligten erwiesen sich als zweifellos versierte Musiker, die den Spirit der Originalsongs über weite Strecken gut einfangen und reproduzieren konnten; auch die Arrangementfraktion hatte bei der Umschreibung der Orchesterlinien auf die vorhandene Klassikbesetzung zweifellos gute Arbeit geleistet. Das Problem bestand nur darin, daß man sich phasenweise sehr große Mühe geben mußte, um das rauszuhören. Der große Saal im F-Haus ist schon so nicht einfach zu beschallen, aber wenn es wie in diesem Falle auf Präzisionsarbeit ankommt und selbst dann noch ein Unsicherheitsfaktor bestehen bleibt, dann müssen Nemo praktisch automatisch unter nicht idealen Verhältnissen leiden, selbst wenn der Soundmensch sich einen großen Pluspunkt verdiente, indem er die Gesamtlautstärke auf einem erfreulich niedrigen Level ließ, um schon mal eine potentielle Mulmquelle auszuschalten. Skurrilerweise war aber gerade das Frontmikro zu leise eingestellt, so daß man die höheren Parts von Sängerin Astrid zwar noch einwandfrei vernehmen konnte, die tieferen aber kaum noch und die Ansagen gar nur dann, wenn sie herzhaft animierend ins Mikro brüllte - dies gilt jedenfalls für die erste Sethälfte, in der ich kurz vorm Mischpult stand; in der zweiten Hälfte begab ich mich nach vorn in Reihe 6, wo dieser Aspekt deutlich weniger problematisch war und man auch die klassischen Instrumente besser hörte, wohingegen dort Christians Keyboards etwas untergingen, die man weiter hinten besser hatte hören können. Weniger störend wirkte sich dagegen der Aspekt aus, daß auch der Chor akustisch weit im Hintergrund stand - es heißt ja nicht umsonst "Background Vocals". Und wenn eines der klassischen Instrumente einen Solospot hatte, wurde zumindest der Versuch unternommen, es entsprechend durchklingen zu lassen, wohingegen Streicherteppiche nur in ruhigeren Momenten vernehmbar waren.
Das Komische an der Sache: Diese Soundanalyse mit einigen erkannten Schwächen (darunter auch einigen, welche das ganze Bandkonzept gefährdeten - wenn man die klassischen Instrumente nicht hört, bleibt halt nur 'ne ganz normale Coverband übrig) wirkte sich auf die allgemeine Laune ganz und gar nicht störend aus, selbst auf die des Rezensenten nicht, der sonst auch eher zur Nörgelfraktion gehört, sich hier dagegen für mehr als zwei Stunden ausgezeichnet unterhalten fühlte und das analytische Ohr zwar nicht ausschaltete, ansonsten aber die schönste Rockparty der letzten Zeit feierte, besonders in der zweiten Sethälfte, als er sich nach vorn begeben hatte und nur gelegentlich von einigen weniger zurechnungsfähigen Figuren gestört wurde, die meinten, zu Songs wie "Wishmaster" unvermittelt einen Moshpit starten zu müssen. Generell fiel auf, daß die Setlist zwar die großen Hits nicht vergaß (soll heißen: von Evanescence gruppierten sich das wunderbare, wenngleich in der Nemo-Version nicht ganz die eskapistische Qualität der ausgekoppelten Radio-Band-Version erreichende "My Immortal" sowie "Haunted" um die Pause, und der Nightwish-Namensgeber "Nemo" markierte den Schluß des geplanten Sets), Projektchefin Astrid aber auch in der "zweiten Reihe" ein gutes Händchen und einen Sinn für seltene, aber funkelnde Perlen besaß. Wer beispielsweise hätte mit "10th Man Down" gerechnet? Wer hätte "Ocean Soul" erwartet? Und wer hätte damit gerechnet, daß es drei Songs geben würde, die in der Nemo-Version noch besser als im Nightwish-Original herüberkommen? Bei zweien hatte das einen rationalen Grund, beim dritten sollte er irrational bleiben. Der rationale hörte auf den Namen Tina und steuerte einen Livedudelsack zu zwei Songs bei. Der eine war erwartungsgemäß das nunmehrige Doppelcover "Over The Hills And Far Away" (dessen Original stammt bekanntlich von Gary Moore und wurde anno 2001 von Nightwish gecovert), das in der Kombination mit Livegeige plus Livedudelsack seine schon in den anderen Versionen vorhandenen Abräumerqualitäten noch einmal potenzierte. Der andere allerdings war das in der Nightwish-Studioversion eher unauffällige "Come Cover Me", das im Original keinen Dudelsack enthält und durch das Nemo-Arrangement ganz ungeahnte Qualitäten entwickelte, die den sehnsuchtsvollen Refrain eindrucksvoll unterstrichen (wenige Tage nach dem Gig hatte der Rezensent Gelegenheit zu entdecken, daß der Song auch in der Nightwish-Livefassung deutlich markanter ausfällt als in der Studioversion - er fand nach langer Suche in einem Leipziger Second Hand-Laden ein Exemplar der finnischen Pressung des Nightwish-Livealbums "From Wishes To Eternity"), wenngleich aufgrund der Abwesenheit einer weiblichen Ozeanseele an der Seite des Rezensenten der titelgebende Wunsch unerfüllt bleiben mußte. Der aus irrationalen Gründen besser als das Original herüberkommende Song sollte allerdings "Angels Fall First" werden - schon auf dem gleichnamigen Debütalbum von Nightwish eine brillante Kuschelhymne, aber in der Fragilität der Nemo-Liveversion trotz der erwähnten Abwesenheitssituation und der Tatsache, daß man durch den Gedankenvorhang irgendwo weiter hinten ein paar Möchtegernhärtner dämliche Kommentare über Metalballaden abgeben hörte, noch einmal ein paar Prozente besser. Mit diesen Leuchttürmen konnte der Rest des Sets nicht ganz mithalten, aber trotzdem machten auch "End Of All Hope" oder der reguläre Setcloser "The Kinslayer" (der nicht gleich im ersten Versuch gelang, obwohl oder gerade weil man den vertrackten Introrhythmus vorher bis zum Erbrechen geprobt hatte, wie Keyboarder Christian hinterher erzählte) jede Menge Spaß, wenngleich es bei ihnen aufgrund der höheren Schlagzahl naturgemäß besonders schwer war, die Klassikmusiker durchzuhören (in diesem Zusammenhang hatte das generelle Vorherrschen von eher balladesken oder midtempolastigen Stücken im Set also auch sein Gutes, und "Ghost Love Score" kann man ja bis zum nächsten Mal immer noch einstudieren :-)). Jedenfalls feierte der Saal (und mittendrin der Rezensent) eine große schöne Party, und da man die Band auch nach den eingeplanten Zugaben noch nicht gehen lassen wollte, wurde man noch ein weiteres Mal mit "Over The Hills And Far Away" belohnt, diesmal sogar in einer extended version mit ausgedehntem Soloduell zwischen Gitarre und Geige. So endete ein hochgradig unterhaltsamer Abend, und dem Projekt wäre eine Existenz mit weiteren Aufführungen bei vielleicht noch sauberer Tonqualität sehr zu wünschen.



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