www.Crossover-agm.de
"Sag, wie hältst du's mit der Religion?" oder: Gibt es eine neue Gretchenfrage? Gespräch mit Gregor Gysi   22.04.2004   Halle (Saale), Franckesche Stiftungen
von ta

Die Franckeschen Stiftungen zu Halle: Neben Museum, Bibliothek, Universitätsgelände auch ein beliebter Versammlungsort für Kongresse, Sitzungen, Vorlesungen, Veranstaltungen aller Art ... Für den 22.04.04 war ein vorerst unpolitischer Gesprächsabend mit Dr. Gregor Gysi vorgesehen, Thema: Gibt es eine neue Gretchenfrage? Die Vision eines neuen Christentums. Das Thema war Bestandteil des Abends. Ein Gespräch ist entstanden. Leider hatten schlussendlich beide Teile nur marginal etwas miteinander zu tun. Dazu das Folgende:
In drei Teile gliederte sich der Abend:

I: Einleitung durch den "Moderator", den ehemaligen Superintendenten von Halle, Günther Buchenau
Als Aufhänger galt eine Rede des Philosophen Jürgen Habermas unter dem bedrohlichen Banner "Was war, ist vorbei", trotzdem oder deshalb Plädoyer für einen bewussten Umgang mit der Bibel, für die Suche nach der Auseinandersetzung mit biblischen Inhalten. Buchenau spricht nüchterne Worte und zieht sich ansonsten für den Abend in sein Innerstes zurück, um schweigend Vortrag und Gespräch beizuwohnen, sieht man von jenen kurzen Nick-Akten ab, die er den Worten Gregor Gysis bei jedem fragenden "Hm?" in seine Richtung spendet. Damit zum vermeintlichen Hauptteil.

II: Vortrag von Dr. Gregor Gysi
Es ist eine Crux. Gysi ist studierter Rechtsanwalt und gleichsam ehemaliger Parteivorsitzender der PDS, ist selbst Atheist, hält in den Franckeschen Stiftungen aber einen Vortrag über Religion, Religiösität. Der Mann geriete vielleicht in inhaltliche Verlegenheiten, bliebe er bei der Religiösität per se auf lange Dauer stehen. Zumindest behandeln etwa fünf von fünfundvierzig Minuten Vortrag das Thema Religion im Allgemeinen; Religiösität für Gysi als Ausdruck einer - wenn auch verständlichen - Schwäche, die das Unerklärliche nicht als solches, als erkenntnistheoretisches Vakuum akzeptieren kann. Unerklärlich, d.h. zwischenmenschlich, geistig. Gedanken. Emotionen. Weil aber die Frage der Religiösität etwas prinzipiell nur Subjektives, individuell erfahrbares sei, wäre ein (Ab-)Urteil über den Gläubigen vom Atheisten genauso widersinnig wie das des Gläubigen über den Atheisten. Ein Plazet der gegenseitigen Toleranz. Und dabei: Gysi spricht sich aus für eine öffentliche Religiösität, eine Verbindlichkeit, die von der Kirche ausgeht. Sein Ansinnen ist dabei (das gibt er fast offen zu) ein rein pragmatisches und es tönt auch heute von allen Ecken und Enden, wenn von den positiven Seite der Kirche geredet wird: Entgegen aller Kirchen- als Machtgeschichte: Die Kirche (die Gysi mit der Religion, die sie vertritt, wenigstens verbal gleichsetzt) ist Wertlieferant. Unser menschliches Dasein braucht Werte. Also: Unser menschliches Dasein braucht die Kirche. Zu einer weiteren Explikation kommt es leider nicht. Etwa, wie die Stärkung einer Kirche in einer strikten Trennung von Staat und Kirche aussähe. Etwa, wie sich subjektiver, individueller Glaube und objektive, allgemeine Moralbindung in Übereinstimmung bringen lassen. Etwa, ob dieses "Grenzen setzen" als Quintessenz christlicher Moral der Kirche letzter Schluss sei. Doch um solcher Präzisierungen ist Gysi offenbar nicht hier. Zur Mitte der Rede hin wird der vorher unscheinbare Mann leidenschaftlich, seine Rhetorik gewinnt an Subtilität, Argumentationsketten entstehen, sprich: Der politische Teil des Vortrags beginnt. Nicht etwa spontan, Gysi nutzt seine Aufschrift. Stattdessen schlagen seine neuen Inhalte eine Richtung ein, die nur durch den Einleitungssatz "Eine Partei, die das 'christlich' nun schon im Namen stehen hat, müsste doch ..." als zum Abendthema gehörig identifiziert werden könnten. Mit der nötigen Phantasie. Das Publikum hat sie. Ich nicht. Als im Rahmen des Christian Wolff-Kongresses Sachsen-Anhalts Kultusminister Olbertz in der selben Lokalität einen wissenschaftlichen Vortrag über Wolffs Bildungsprogramm halten sollte (ein Thema, das sich im Rahmen der umstrittenen Hochschulgesetzgebung politisch sicher wunderbar instrumentalisieren ließe), schaffte er es tatsächlich, einen rein wissenschaftlichen Vortrag zu halten, d.h. seine Politik außen vor zu lassen. Dr. Gregor Gysi schafft das nicht. Im Gegenzug werde ich an dieser Stelle über den zweiten Teil seiner Rede kein Wort verlieren, unabhängig davon, ob die Inhalte für eine eingehende Beschäftigung relevant wären oder nicht.

III: Gespräch mit Dr. Gregor Gysi
Bei allem Respekt auch für das zahlreich versammelte Publikum - aber am Thema des Abends war offensichtlich kaum einer der Fragenden interessiert. Was sich zu Anfang der überaus nicht-kontroversen Gesprächsrunde mit Fragen zu Gysi als Person andeutete, wurde nach einiger Zeit evident: Hier ging es auch den Anwesenden primär um politische Statements. Mit einem "Kirche = Moral = Gut = trotzdem kann jeder glauben, was er will" war zum Thema Gretchenfrage/Vision eines neuen Christentums offenbar alles gesagt. Diskussionsthemen (bzw. Themen, zu denen der umtriebige Politiker Stellung bezog) waren u.a. Freie Wirtschaft, PDS-Moralität, Reformpaket und - oh Wunder - Religionsunterricht an Schulen. Hier der Vorschlag Gysis zu einem nicht religiös-konditionierten, geisteswissenschaftlich orientierten Unterricht, der ebenso wie alle Formen der Religion auch die Philosophie als Lehrprogramm umfasse. Wie realistisch ein solches Mammutprogramm Schulen erschiene, ist fraglich. Am 22.04.04 gab es im Auditorium reichlich Beifall bei geschickt verwerteten Topoi allgemeiner Beliebtheit, abschätziges Gelächter bei Polemik gegen Politiker und zustimmendes Nicken bei ganz persönlichen Unter-Vier-Augen-Worten über Erziehung. Die Gretchenfrage blieb unbeantwortet, wenn nicht gar ungestellt. Ein denkwürdiger Abend.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver