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Kant Pop Symphony   15.03.2004   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Vorweg: Der Kant, um den es hier geht, ist nicht etwa Hermann oder ein weniger bekannter Vertreter selbigen Nachnamens, sondern tatsächlich Immanuel, und wer sich nun staunend fragt, was der Philosoph denn mit Pop zu tun hat, der wird auch nach Durchhören des Werkes keine Lösung gefunden haben, weder musikalisch noch (text-)inhaltlich. Pop hat im heutigen Sprachgebrauch ja meist was mit dem ähnlich kurzen Wort "hip" zu tun, und "hip" sind die Gedankenwelten Kants heutzutage nun ganz und gar nicht, weder im gemeinen Volk noch bei der über dem gemeinen Volk schwebenden selbsternannten oder tatsächlichen Elite - die im Programmheft angeführte Kantsche Zielstellung, er lehre uns, "unseren eigenen persönlichen Verstand zu gebrauchen" ist in der heutigen Gesellschaft leider zu oft ein bloßes Lippenbekenntnis. Peter Herrmann, der Komponist der "Kant Pop Symphony", gibt uns im Programmheft aber noch ein paar weitere Denksportaufgaben mit. Exempel: "Viele Menschen bekomen Angst, sie suchen Halt im Glauben, aber leider auch im Irrationalismus." Letztgenannten hat Herrmann zwei Sätze zuvor als "Erkrankung unserer wunderbaren Denkkraft" in der heutigen Zeit gekennzeichnet. Das Paradoxon, daß ja aber auch der Glaube auf irrationalistischen Prinzipien beruht, bleibt allerdings ungelöst - in der Sinfonie, im Programmheft, in Königsberg (wo Kant strenggenommen als völliger Provinzgelehrter gigantische Weltdenkgebäude auftürmte), im Universum.
Anno 2004 hat besagter Immanuel Kant also seinen 200. Todestag, was den äußeren Anlaß für die "Kant Pop Symphony" liefert, die an besagtem Montagabend im Großen Saal der Hochschule ihre Uraufführung erlebt. Sieben Teile hat die Sinfonie, und gleich die Einleitung des Präludiums ist nicht geeignet, dem Hörer einen einfachen Einstieg in das Werk zu gönnen - brutal-atonale Passagen erinnern an die vor einigen Jahren häufiger gesendete Werbung, in der die Faust aus der Frühstückskaffeetasse gesaust kommt. Wachgeküßt dagegen wird der Hörer erst viel später, und da taucht ganz plötzlich auch ein Pop-Element auf: Sängerin Karolina-Edith Trybala (im Programmheft ist ihre Rolle als "Jazzsängerin" betitelt, was den Vorwurf eines Kollegen bezüglich einer intonationsfreien Singweise ad absurdum führt - die vierteltönigen Abweichungen dürften konzipiert oder zumindest toleriert worden sein) bekommt mehrere "Frieden"-Passagen zu singen, und wenn man deren erste beide zusammenfassen und etwas umarrangieren würde, könnte man das Resultat fast als Single auskoppeln. Bis man aber so weit vorgedrungen ist, hat man als Hörer harte Arbeit zu leisten, bis man gegen Ende des Präludiums die Sinfonie endlich knacken zu können glaubt - paradoxerweise wieder in relativ brutalen Passagen, die an eine neuzeitliche Weiterentwicklung von Griegs Mountain King erinnern und eine Art von Harmonik auffahren, welche der rockmusikalisch beflissene Hörer schon von den frühen Alben der britischen Doom/Death Metaller Cathedral ("Forest Of Equilibrium", 1991, und "The Ethereal Mirror", 1993) kennt. Hinterfragungswürdig bleibt dagegen die Rolle von Sprecher Bernd Lange, der während des gesamten Präludiums im Hintergrund Kant-Texte zu lesen hat, die aber akustisch niemand versteht. Lauter gemischt wird er nur in den Sinfonie-Teilen 2, 4 und 6, die er größtenteils im Alleingang zu bestreiten hat. Kann er den Hörer zumindest anfangs noch bei der Stange halten, wirkt sein Lesestil auf Dauer allerdings etwas zu monoton. Zudem tun sich in den Mittelmusikteilen konzeptionelle Schwächen auf: Beide sind mit "Instrumental" betitelt, obwohl auch die Sängerin dort etliches zu tun bekommt (die einzige mögliche Deutungsvariante wäre die, daß auch die Stimme der Sängerin als weiteres Instrument angesehen wird, unabhängig vom Gesungenen, womit wir wieder eine Parallele zum partiell ähnlich arbeitenden Death Metal gefunden hätten). Inwieweit die Tatsache, daß Karolina-Edith Trybala anfangs mit einem kurzen roten Umhang auf der Bühne steht (damit den einzigen Kleidungsfarbfleck aller Mitwirkenden setzend - alles andere sieht schwarz aus), diesen zwischenzeitlich ab- und erst im Postludium wieder anlegt, inhaltlich-konzeptionelle Gründe hat, muß ungeklärt bleiben. Klarheit herrscht hingegen scheinbar bei den musikalischen Zutaten der Sinfonie: "Jazz, Pop, Blues, E-Sound, Modern Music und Klassik stehen im Zentrum des Klangbildes", gibt Komponist Herrmann im Programmheft bekannt und sorgt damit ein weiteres Mal für Irritationen, denn er greift keineswegs auf stilistisch "reine" Passagen zurück, sondern schreckt nicht davor zurück, beispielsweise vom Blues lediglich die Melodik zu nehmen und diese in ein Korsett aus Minimal Music (die fehlt in der Aufzählung übrigens) zu stecken. Diese Verquickungen gelingen ihm mal besser, mal nicht ganz so gut, aber das ist ein Problem, das er mit 99% aller neuzeitlichen Komponisten der vordergründigen E-Schiene teilt. Und so fragt man sich bei manchem instrumentalem Einsatz durchaus ernsthaft nach dem Warum, während durch andere Passagen der genius loci überdeutlich durchschimmert. Was beispielsweise Benedikt Hübner (Kontrabaß) und Reinhard Schmiedel (Klavier), mitunter noch akkompaniert durch die wie eine weibliche Version des Frühneunziger-Tobias Künzel aussehende Flötistin Ivanna Pylypchak, in den Mittelsätzen harmonisch aus einem simplen g-moll-Dreiklang weiterentwickelnd herausholen, ist schlicht und einfach Weltklasse, und man wartet förmlich darauf, ob dieses Element wohl noch einmal wiederkehren wird (damit erzeugt der Komponist Spannung), was aber leider ausbleibt (da macht sich dann doch etwas Enttäuschung beim Hörer breit). Saxophonist Michael Arnold und E-Gitarrist Jörg Wolschina bekommen ebenfalls recht hochklassige eindringliche Solopassagen zugewiesen, und das Wort "eindringlich" gilt in seiner wertfreien Deutungsvariante auch für den Jazzviolinisten Thomas Prokein. Der interpretiert offensichtlich die Rolle des schmerzhaften Elements beim Denken. Soll heißen: Er spielt technisch brillant gesetzte Passagen, besonders gegen Ende hin - die aber zerlegen mit ihren "tonalen" Vorstellungen und ihrer Intonationsart die Nervenstränge des Hörers in millimeterdünne Scheiben. Das sind die Momente, in denen man den Anspruch des Komponisten, seine Sinfonie wolle "einer der vielen kleinen Schritte sein in die offene, und hoffentlich glückliche Zukunft" sein, nicht recht ernstnehmen möchte. Und daß Bernd Lange in einer seiner letzten Lesepassagen ausgerechnet auch noch die Kantschen Überlegungen über die subjektive Schönheit (und damit praktische Unangreifbarkeit) eines Kunstwerks zu rezitieren hat, erweckt fast den Eindruck, als wolle sich der Komponist für das instrumentelle Flächenbombardement mancher Passagen rechtfertigen. Reinhard Schmiedel leitet vom Klavier aus engagiert, aber mit den Einschränkungen, die mit seiner gleichzeitigen instrumentellen Tätigkeit verbunden sind. Vielleicht hätte ein gesonderter Dirigent noch etwas mehr Präzision und damit akustische Klarheit in manche Parts gebracht. Der Komponist ist dennoch offenbar mehr als zufrieden mit der Uraufführung - so enthusiasmiert wie er nach dem Verklingen des letzten Tons auf der Bühne auf und ab läuft und sich bei den Mitwirkenden bedankt.
Was aber bleibt? Bei jedem Hörer wohl unterschiedlich viel - beim Rezensenten die Erinnerung an einige Geniestreiche, aber auch einige "Warum"-Passagen und die Tatsache, daß man ohne die gelesenen Kant-Texte die Sinfonie auch Hegel, Platon oder Adorno hätte zuordnen können. Um ein Wort des Berliner Dichters Alf Ator abzuwandeln: "Es fehlt bei all dem vielen Klang der logische Zusammenhang." Das Publikum im zu zwei Dritteln gefüllten Saal applaudiert mehr als freundlich, aber keineswegs enthusiastisch - dafür ist die Sinfonie schlicht und einfach ein zu harter Brocken. Ob sie sich auch außerhalb des Hochschulbetriebs bewähren kann, bleibt völlig offen.



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