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Vicki Vomit & Die misanthropischen Jazz-Schatullen   04.10.2003   Altenburg, Music Hall
von rls

Es gab Zeiten, in denen ich Vicki Vomit und seine gern mal umbenannte Begleittruppe relativ oft live gesehen habe. Das begann 1996 (obwohl mein frühestes Liveerlebnis mit der damals Vicki Vomit & The Sisters Of Jelzin geheißenen Formation bereits vom Herbst 1994 datiert) und endete 1998 - danach sollte sich trotz umfangreicher Touraktivitäten der Thüringer erstmal keine Gelegenheit mehr ergeben. Zudem hatte mich das damals neue Material eher enttäuscht, war der unterschwellig sozialkritische Aspekt in Vickis Klamaukrock (hört mal genau in Songs wie "Heut' ist Weltuntergang" oder den Titeltrack der stärksten Vicki-Scheibe "Ich mach's für Geld" rein) mehr und mehr einer partiell arg grenzdebilen Fäkalausrichtung gewichen und ließ auch die Qualität der sonstigen Humoraufbereitung die skurrile Schwärze mehr und mehr vermissen. Soll heißen: Vicki Vomit verschwand etwas aus meinem Gesichtsfeld, aber die Erinnerungen an die legendäre Mittneunziger-Zeit sind natürlich immer noch da, und so konnte ich die Gelegenheit, den Erfurter und seine momentan Die misanthropischen Jazz-Schatullen geheißene Begleittruppe (noch ein paar Namen der Zwischenzeit gefällig: Vicki Vomit & The Power Of Parkplatz; Vicki Vomit & Die Kraft der zwei Herzen; Vicki Vomit & die Creuzfeld-Jacob-Sisters; Vicki Vomit & The Mutschekübchen Of Death ...) in unmittelbarer Nähe mal wieder in Augenschein zu nehmen, nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Ich kam zu spät zur Music Hall in Altenburg, um den Namen der Vorband noch zu erfahren, aber leider zu früh, um die zweite Hälfte ihres Sets auch noch zu verpassen. Damit ist eigentlich schon fast alles über dieses grenzdebile Duo gesagt, das da mit Akustikgitarre, Mundi und noch ein paar Instrumenten agierte, sich auf dem textlichen Level der Lokalmatadore an einem ganz schlechten Tag einpegelte und damit die eine oder andere gute musikalische Idee wie etwa die Verhohnepipelung des Themas von "Spiel mir das Lied vom Tod" auch noch ungenießbar machte. Ein paar wenige schön ausgefeilte zweistimmige Gesangspassagen waren somit das einzige halbwegs Positive, was von diesem Gig hängenblieb. Daß vereinzelte Anwesende eine Zugabe forderten (die dann schrecklicherweise auch noch gespielt wurde und mir irgendwie bekannt vorkam - aber woher nur?), kann allenfalls an gesteigertem Alkoholpegel oder sonstwie getrübtem Bewußtsein gelegen haben. Daumen runter.
Dann also Vicki (nach angenehm kurzer Umbaupause übrigens). Das Backdrop war bekannt - unter dem Motto "Saufen & Humanismus" waren die Thüringer schon vor etlichen Jahren unterwegs gewesen. Aber ein paar Überraschungen hatte Vicki doch parat. Man hätte wohl mit allem gerechnet, aber nicht mit einer schwarzgewandeten Keyboarderin (!), die hinter einer Tastenburg versteckt agierte, als sei sie die Tochter von Jon Lord, und optisch wohl eher bei sagen wir mal Theatre Of Tragedy zu verorten gewesen wäre. Nächste Überraschung: "Orbeidslos und Spoß dorbei", der immer noch größte Hit Vickis, als kompromißlose Rockversion gleich zum Auftakt (nach der sphärischen Version des "Trabiriders"-Themas als Intro), und - noch eins obendrauf - Vicki wieder am Baß und nicht an der Gitarre. Back to the roots? Vielleicht. Metalhistoriker werden sich an die zur Wendezeit aktive Band Blitzz erinnern, in der Vicki unter dem Pseudonym Flatzz J. Wahnhoff Baß spielte - die Connection zu VV-Ur-Gitarrist Tommy Feiler datiert ebenfalls noch aus Zeiten dieser Band. Besagter Tommy Feiler war zwischenzeitlich mal ausgestiegen, ist aber nun wieder dabei (wenn er's denn tatsächlich war, denn optisch hatte sich der Mensch da auf der Bühne doch ganz schön von dem entfernt, an den ich mich noch von früher erinnern kann). In den Folgesongs griff aber auch Vicki bisweilen wieder zur Gitarre, so daß Keyboarderin Ines die Baßparts an einem ihrer Manuale einspielte. Die zusätzlichen Möglichkeiten durch die Tasteninstrumente wurden aber auch in weiteren Songs weitreichend ausgenutzt, so daß wirkungsvolle Kontraste zum punkrockigen Ansatz des zwischenzeitlichen Trios entstanden, wenn etwa mancher "Oldie" mit sphärischen Klängen unterfüttert wurde. Ich kann mich noch an eine wohl experimentell gedachte Vicki-Besetzung erinnern (das muß auch 1996 oder 1997 gewesen sein), als man gar ein Quintett bildete (zwei Gitarren, Baß, Drums und Keyboards) - die neue Band ist jedenfalls definitiv die musikalischste seit der damaligen, und das zeigte sich auch an einer enormen Spielfreude, mit der die Songs dargeboten wurden, wenn etwa "Wohin mit Omas Leiche" als Ausklang des regulären Sets durch ausgiebiges Solieren gleich dreimal so lang war wie die Originalversion. Zudem entpuppte sich Vicki ein weiteres Mal als Multiinstrumentalist - nicht nur daß er nach fast jedem Song sein Saiteninstrument wechselte, er spielte auch noch Saxophon und war auch als Schlagzeuger zumindest zu einem soliden Beat in der Lage, als der etatmäßige Drummer Kai Pfützenreuter für das allerdings nach wie vor kaum witzige "Blümchen ist 'ne Kackstelze" an Baß und Frontmikro wechselte. Sonstige Rollentausch- und Verkleideaktionen gab's diesmal übrigens nicht. Der Hauptteil des Sets konzentrierte sich auf Material neueren Datums, und - die nächste Überraschung! - mit diesem kann Vicki zumindest phasenweise wieder an die glorreichen "Ich mach's für Geld"-Zeiten anknüpfen, wie Tracks wie das bitterböse "Ich wär' so gern George Bush" oder das gleich mal zum T-Shirt-Motiv auserkorene "Ficken für Deutschland" (das berüchtigte Rüttgers-Zitat "Kinder statt Inder" durch den Kakao ziehend) eindrucksvoll bewiesen: phasenweise extrem lustig, aber mit einer Portion Anspruch formuliert. Musikalisch aus dem Rahmen fiel "Popstars kacken nicht", ein Seitenhieb aufs Musikbusiness zwischen Grand Prix und DSDS und in seiner Originalversion "Tränen lügen nicht" geringfügig bekannter. Der Reggae-Zwischenteil enthielt natürlich den Classic "Paul", welcher aber neben dem technoziden Outro "Trabiriders (nach der Wende)" der einzige Track von "Ich mach's für Geld" bleiben sollte. So richtig in der Vergangenheit wühlten dann erst die beiden Zugabenblöcke, wobei "Ich habe Steffi Graf gekillt", "Liebe mit Claudia" (erstaunlicherweise das einzige Exempel von "Bumm Bumm") und "Durchfall im Weltall" medleyartig zusammengefaßt werden mußten - sonst wären vermutlich noch mehr als die so schon opulenten zwei Stunden Spielzeit zusammengekommen. Insgesamt also mal wieder ein sehr unterhaltsamer Abend und in Gestalt des neueren Materials hoffentlich wieder "Ein Schritt nach vorn" für Vicki.



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