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Adventskonzert der Kulturinstitute der Visegrád-Staaten   08.12.2002   Berlin
von Thomas Heyn

Visegrád und Orwell
Eine Einladung zum gemeinsamen Adventskonzert der Kulturinstitute der Visegrád-Staaten im Auswärtigen Amt flattert ins Haus. Visegrád liegt nördlich von Budapest und offeriert im Internet "Reiterspiele aus der Zeit der Landnahme" sowie eine Burgruine aus dem 12. Jahrhundert und den Palast von König Matthias. Von Gegenwart, Politik gar, keine Spur. Auch das miteinladende "Deutsche Kulturforum östliches Europa" finde ich im Netz: "Mit Lesungen, öffentlichen Diskussionen, Ausstellungen, Preisverleihungen, Tagungen und Workshops will das Institut Kunst und Kultur eines historischen Großraumes, der durch ethnische und kulturelle Vielfalt gekennzeichnet war (!!!) und zum Teil noch ist (!!!), einem breiten Publikum näher bringen."
Das Institut ist eine Kunstgründung des Bundesinnenministeriums und wurde auf schmerzhafte Weise aus der Künstlergilde (Sitz Esslingen) herausgelöst. Die Künstlergilde verstand sich als Selbsthilfevereinigung. Und genau hier lag das Problem für die Bundesregierung nach ihrem Wahlsieg 1998: Die Mitglieder der Künstlergilde (Maler, Musiker, Schriftsteller, Fotographen usw.) hatten zu viele Ideen, welche Rolle die Kunst im Prozeß der Integration der neuen Staaten spielen könnte. Gemeint war dabei die kreative Kunst der Gegenwart, reibende, provozierende, sich einmischende Kunst. Politiker lieben die Kunst aber nur, wenn die Künstler verstorben oder runde Geburtstage zu begehen sind oder wenn die Künstler wie Hofnarren ihre politischen Dürftigkeiten mit ein wenig Glanz und Glimmer umschmeicheln.
Die 10 Jahre alte Slowakische Republik also schickte ein Blechbläser-Ensemble. Die vorzüglichen Musikanten bliesen altenglische Madrigale, selbstgemachte Bigbandmusik und eine musikalische Satire von Schostakowitsch. Wollten sie damit den Russen für die Befreiung vom tschechischen Joch danken? Immerhin spielte das slowakische Ensemble den einzigen lebenden Komponisten des Abends, den 1941 geborenen Enrique Crespo, aus dessen Suite Americana der "Son de Méxiko" erklang, zum Weihnachtskonzert der Visegrád-Staaten wohlgemerkt. Sollen solche Programmpunkte die Toleranz und Weltoffenheit eines kleinen Landes vorführen oder sind es vorauseilende Gesten der Unterwerfung für "the next big game"?
Das polnische Kulturinstitut schickte eine junge Pianistin, die bravourös Werke von Chopin und Szymanowski wiedergab. Aber: Polen war und ist das Land der Komponisten. Diese innovativen Künstler haben Türen geöffnet und Wege gefunden, die vorher unbekannt waren und als unbeschreitbar galten. Aber was haben die Entscheider herausgesucht? Das Altbewährte natürlich.
Der Beitrag der Tschechischen Republik bestand aus Werken von Oskar Nedbal, Bedrich Smetana und einer Suite aus Leonard Bernsteins "West Side Story", natürlich mit dem Hit "America", der arglos und fröhlich ausmusiziert wurde. Irak, Kriegsgefahr. Ach was. "I feel pretty".
Der ungarische Pianist donnerte die donnernden Noten der Ungarischen Rhapsodie von Franz Liszt durch den Saal und erzeugte donnernden Widerhall in Form von Applaus. Franz Liszt, der als alter Herr in Weimar lebte und katholischer Abt wurde, sprach kein Wort ungarisch. Seine Verwendung "ungarischer" Melodien wurde zu Lebzeiten des Meisters ebenso als reiner Folklore-Kitsch empfunden wie Johannes Brahms' "Ungarische Tänze". Heute geht so was glatt als Hochkultur durch. Ravels abschließendes "Tzigane" wurde von Geige und Klavier virtuos musiziert, aber es hatte als Werk mit dem Thema des Abends gar nichts zu tun.
Ein rückwärtsgewandter, uninnovativer Mischmasch wie dieser soll die Vision der kulturellen Vielfalt beschwören, um derentwillen die EU-Altstaaten Milliarden ausgeben sollen wollen? Denn die ökonomischen Daten sprechen eine eindeutige Sprache: "Viele Studien beschäftigen sich mit den Folgen einer EU-Osterweiterung aus ökonomischer Sicht. Demnach entfallen zwei Drittel der Erweiterungsgewinne von 11,2 Mrd. Euro seitens der EU der fünfzehn auf Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Ein Drittel entfällt allein auf Deutschland. Davon profitieren vor allem die Visegrád-Staaten.
Allerdings stellt Ostmitteleuropa derzeit keinen in sich integrierten Raum dar. Die Visegrád-Staaten liegen einerseits am Rande der EU, andererseits oft nicht weit von westlichen Agglomerationen entfernt, so dass sich ein Strukturwandel und die Bildung neuer Zentren schwierig gestalten könnte. Bereits aus der Sicht entstehender Kosten und erwarteter Gewinne ist die Osterweiterung der Europäischen Union eine risikoreiche Herausforderung. Die vorwiegend politisch geführte Debatte um Vertiefung und Erweiterung stellt dem kein konsolidiertes institutionelles Konzept gegenüber, welches den Garanten für einen sowohl Wirtschaft als auch Politik betreffenden Erfolg der Osterweiterung darstellen könnte. So wird die politisch gewünschte Osterweiterung ein wirtschaftliches Abenteuer werden, wenn auch dessen Risiko begrenzt ist. Die Kosten dafür - egal wie hoch sie einmal wirklich ausfallen werden - werden hauptsächlich die 'alten' EU-Mitgliedsländer tragen müssen" (Christian Domnitz).
Also wird Europa dann sein: verwaltet von hochbezahlten Nicht-Denkern, technokratisch, ökonomistisch, bar jeder Idee und jeder Sensibilität. Die Kultur als Zierrat, als Beiwerk, alles gleich viel wert und gleichwertig und gleich gültig und gleichgültig. Ein Staatenbund, der alle seine nicht-materiellen Traditionen nicht pflegt, nicht wahrnimmt, nicht nutzt, nicht ins Spiel bringt. Jeder des anderen Vasall und des anderen Abziehbild, in den immergleichen Städten die immergleiche Instant-Kultur, der immergleiche Wein in neuen Schläuchen, gerade so erträglich gemacht durch die Förderung "Junger Künstler", also durch das Zurschaustellen unverbrauchter Gesichter und junger Haut. Ein Lehrstück!
In einem Jahr treten sie bei, die Visegrád-Staaten. Und die anderen werden auch immer lauter an die Tür klopfen. Dann wird sie kommen, die Kunst und Kultur eines historischen Großraumes, der durch ethnische und kulturelle Vielfalt gekennzeichnet war und nur ZUM TEIL noch ist. Orwell hatte sich halt ein bisschen verrechnet: Nicht 1984, 2004 ist auserkoren als das Jahr der Jahre! Denn die europäische Kultur war zu stark und hat länger standgehalten, als er vermuten durfte. Vielleicht hält sie ja noch weiter stand?






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