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4. Rock Open    23.06.2001    Leipzig, Rabet
von rls

Rock Open? Rock Closed! Bauarbeiten auf der Eutritzscher Parkbühne machten eine Verlegung des mit der vierten Auflage nun durchaus schon als traditionell gelten dürfenden Rock Open-Nachwuchsbandfestivals in den Rabet-Bau an der Grenze der Stadtteile Neuschönefeld und Volkmarsdorf notwendig. Nichtsdestotrotz hatten sich das veranstaltende GeyserHaus und seine Supporter, zu denen in altbewährter Weise auch CrossOver gehört, wieder ins Zeug gelegt, um aus einer riesigen Zahl eingegangener Demobänder die stilistisch buntgemixten Finalistenkapellen zu ermitteln, die schlußendlich im Rabet um die zur Bandweiterentwicklung (und nicht etwa zum Biererwerb!) ausgelobten Geldpreise spielten. Von den acht Finalisten mußten allerdings gleich drei (meist krankheitsbedingt) kurzfristig passen, darunter auch Autumn Rain, die, sofern sie sich in dem Jahr, seit ich sie erst- und letztmalig live sah, nicht rapide verschlechtert haben, sicher ein gewichtiges Wörtchen bei der Vergabe des Platzes an der Sonne mitgeredet hätten. Durch die Absagen entzerrte sich allerdings der Terminplan etwas, so daß nicht nur jede anwesende Band zehn Minuten mehr Spielzeit bekam, sondern der Beginn auch ein Stück nach hinten verlegt wurde, so daß ich mich neben diversen Smalltalks auch noch mit der wohlweislich mitgebrachten Lektüre beschäftigen konnte.
Balcony Bizz köderten das zu dieser Zeit noch nicht sehr zahlreich anwesende Publikum mit Freigetränken, die von der Bühne aus verteilt wurden. Das hatte das Trio aus Dresden aber auch nötig, denn anderweitig berauschend war ihr Gig nicht unbedingt. Der kompakt inszenierte Set und das gute Solo des DJs in "Kein Plan" waren neben raptechnischer Solidität und den ordentlichen Texten so ziemlich die einzigen Pluspunkte, welche die Combo einfahren konnte. Ich bin wahrlich kein Hip Hop-Experte, aber das, was Balcony Bizz da zusammenbrauten, habe selbst ich schon in hundertfacher Ausfertigung und besserer Qualität anderweitig gehört. Offenbar hatten Balcony Bizz auch schon so eine Ahnung, denn das Stück nach "Kein Plan" (Namen sind Schall und Rauch, denn aufgrund der DJ-Backgroundmusik zwischen den einzelnen Songs konnte man die Ansagen nur begrenzt verstehen) hatten sie mit einem fast progressiv zu nennenden rhythmischen Unterbau ausgestattet, wo regelmäßig mal 'ne Snare oder ein anderer Beat fehlte. Das war zwar interessant, aber nun ging der Schuß in eine andere Richtung los, denn mit den fehlenden Beats ging auch der Groove den Bach runter. Und ungroovender Hip Hop ist vielleicht was für angestrengtes Lauschen vor der heimischen Stereoanlage, sprengt in der Livesituation aber schnell die Stimmung, und das war auch hier so. Sicherlich sind Balcony Bizz keine hoffnungslosen Loser, aber von ihrer Meterware bzw. den momentanen Abweichungen von selbiger bis zu größerem Status ist es noch ein weiter Weg. Da auch meine Jurykollegen ähnlich dachten, blieb für die Landeshauptstädter unterm Strich nur ein fünfter Platz übrig.
Der historisch Bewanderte konnte es am schwarz-weiß-roten Outfit der Sängerin (womit keine politische Aussage impliziert werden sollte) schon ablesen: Tintinnabulation waren eine Kriegserklärung an die gängigen Vorstellungen von Indierock. Jedenfalls steht ebendiese Sängerin mit ihrer extremen Sangesweise in Deutschland so ziemlich allein auf weiter Flur. Von "einlullend" bis "aufpeitschend" und wieder zurück ging die Reise, dabei aber auch keine Schattierung auslassend und erfreulich ungeschliffen-unverbraucht klingend. Mal gebärdete sie sich derart hysterisch, daß sie allen eventuellen Heiratsanträgen einen Riegel vorschob, weil man als männlicher Counterpart nach spätestens einer Woche in der Gummizelle landen würde, mal umschmeichelte sie in hochlieblicher, manchmal auch an The Gathering-Anneke erinnernder Weise das Herz des Publikums, und dann flüsterte sie ihre Ansagen in einer ruhigen, zurückhaltenden, fast schüchtern wirkenden Art und Weise ins Mikro, daß man gar nicht mehr wußte, wo hinten und wo vorn ist. Schade nur, daß nicht die gesamte Band mitziehen konnte. Der Trommler hatte ein paar Aussetzer zu beklagen (die allerdings teilweise nicht mal schlecht klangen und daher durchaus auch als geplante Rhythmusverschiebungen durchgehen könnten), und der Gitarrist hatte zwar einige schöne Lead-Rhythmus-Kombinationen in petto, war aber soundlich recht unterrepräsentiert, wenn er nicht gerade eins seiner nicht seltenen unoriginellen Stonerrock-Riffs von sich gab. Auch das Bühnenbild der Bad Liebenwerdaer ließ die letzte Abstimmung vermissen: Die recht exzentrisch gekleidete Sängerin wollte mit dem in ein Shirt mit brasilianischen Farben gehüllten Gitarristen und den in edlem Schwarz angetretenen Bassisten optisch nicht so recht harmonieren. Musikalisch war's insgesamt betrachtet sehr ordentlich, vor allem wegen des Gesangs, aber die großen indierockenden Vorbilder aus den US von A sind durchaus noch ein Stück entfernt. Speziell dieser Gesang verleitete allerdings einige Jurymitglieder zu sehr hohen Punktwertungen, so daß Tintinnabulation letztlich in der Spitzengruppe landeten und den zweiten Platz nur knapp verpaßten, was mit meiner internen Wertung Hand in Hand ging.
Tuesday Afternoon aus Döbeln - hmmmm ... gab's ebendort nicht mal 'ne Combo namens Tuesday Evening? Und wo hab' ich den nicht singenden Gitarristen nur schon mal gesehen? Noch grübelnd, startet das Quartett mit einem atmosphärischen Instrumental, das auch auf Silverbullits "Citizen Bird"-Scheibe gepaßt hätte. Allerdings sollte das über weite Strecken auch der einzige Song bleiben, in dem es der Truppe gelang, Atmosphäre aufzubauen. Was nicht heißen soll, der vorgetragene Indierock wäre nun prinzipiell schlecht gewesen. Nur hatten Tuesday Afternoon das Pech, nach Tintinnabulation auf die Bretter zu müssen. Speziell der sehr nasal und in fast androgyner Art und Weise zu Werke gehende Sänger fiel im direkten Vergleich doch ein gutes Stück ab, auch wenn er sich im Verlaufe des Sets steigerte. Insgesamt machten Tuesday Afternoon viel zu wenig aus den Möglichkeiten, die sie durch das Vorhandensein zweier Gitarren hatten (die Dinger gaben allerdings auch mehrmals ihren Geist auf). Die solide Qualität des Songwritings wurde nur einmal nach oben hin durchbrochen, als kurz vor Setschluß "Superman" erklang, ein überlanges und abwechslungsreiches Stück, das eindrucksvoll das Potential der Formation aufzeigte, welches ansonsten eher in schlummernden Gefilden weilte. Erwähnenswert wäre noch der Trommler, der hinter einer Art Amati-Tanzschlagzeug aus den 50er Jahren saß (falls es sowas damals schon gab - ich bin kein Instrumentenhistoriker), das jeder Tanzsaalcombo dieser Periode zur Ehre gereicht hätte. Da man ihn somit sehr deutlich agieren sah, entstand bei einigen Jurykollegen der Eindruck, er hätte "zu viel gespielt", was für einen gewissen Punktabzug sorgte, im Gegensatz zu der erfreulichen Ungekünsteltheit der Band, die ihr allerdings auch nicht mehr in die Medaillenränge verhalf.
Der Schlagwerker von Boing Agrapapulci hatte kein 50er Amati-Tanzschlagzeug vor sich, war aber so gekleidet, als ob er hinter einem solchen säße. Das paßte gut zum generell sehr schrägen Erscheinungsbild des Quartetts - nicht unbedingt im optischen, wohl aber im musikalischen Sinne. Die aus dem Großraum Halle/Leipzig stammende Combo, die große Mengen Fans mitgebracht hatte, fabrizierte etwas, das irgendwie das Prädikat "Crossover" verdient hatte. Vor allem der Sänger war Mittelpunkt der Truppe mit dem unaussprechlichen Namen. Nicht nur, daß er ständig kreuz und quer über die Bühne wuselte oder afrikanische Percussions bearbeitete, auch sein Gesang wußte durch absolute Vielfalt zu überzeugen, womit er quasi das männliche Pendant zu seiner Kollegin von Tintinnabulation darstellte. Cleane Melodiebögen waren ebensowenig ein Problem wie rauhes Shouting im Stile von James Hetfield oder alle möglichen Schattierungen hardcorelastigen Gebrülls. Eine gelungene Gesamtpräsentation, handwerklich in ordentlicher Weise dargeboten (der Drummer spielte auch mal Saxophon) - nur einen Haken hatte das Ganze meines Erachtens. Ich weigere mich partout, eine unkontrollierte, unkoordinierte und durch mir in keinster Weise ersichtliche Prinzipien geordnete Aneinanderreihung (ich sollte wohl das Wort "willkürlich" benutzen) von Song- bzw. Stilfragmenten "Songwriting" zu nennen. Nichts gegen Abwechslung, auch nichts gegen Stilvermischung (die gerade im Crossoverbereich ja unabdingbar ist), aber bitte nicht nach dem Prinzip "Alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, kleinschnippeln und in den Kochtopf werfen, ohne dabei umzurühren". Eine klare Linie war in diesen 40 Minuten (das angedachte zusammenhaltende Konzept hin oder her) völlig abwesend, und der Sänger setzte seine vorhandenen ausgezeichneten Fähigkeiten leider alles andere als songdienlich ein. Wenn Reggae, Hardcore, Indie, Punk, Alternative und was weiß ich noch alles im Zehnsekundentakt aufeinanderfolgen, dann ist das irgendwie zuviel des Guten. Somit bildeten Boing Agrupapulci quasi die musikalische Entsprechung eines Virginia Woolf-Romans (wer meine Meinung über diese Frau kennt, weiß, daß das alles andere als ein Kompliment ist), obwohl sie dank ihrer Qualitäten in den Kategorien Handwerk, Innovation und Präsentation letzten Endes in meiner persönlichen Wertung den zweiten Platz belegten. Die Jurykollegen sahen die Sache mit dem verschnipselten roten Faden nicht so eng, punkteten sehr hoch und hoben Boing Agrupapulci damit aufs oberste Podest.
Dorthin hatten es in meiner Wertung Ska't geschafft. Diese Band zählte mit Abstand die meisten Mitglieder des Abends (nämlich sieben), und trotz der daraus resultierenden Enge auf der Bühne waren die beiden Sänger immer in Bewegung, rannten und sprangen auf und ab und animierten das Publikum zum Mitmachen. Engagierte Lyrics hin oder her - hier und heute kam es eher auf den bewegungsfördernden Aspekt der Kompositionen an. Auch Ska't mixten dabei Stile, allerdings in bedeutend übersichtlicherer Form als ihre Vorgänger: Die eine Hälfte der Band spielte Metal, die andere Ska. Damit war sogar ansatzweise Originalität vorhanden (normalerweise wird, wenn schon ein Stil harter Gitarrenmusik mit Reggae oder Ska verquickt wird, Punk oder Hardcore gewählt, wohingegen hier die meinen Ohren arg heruntergestimmt klingenden Gitarren eine feiste Metalkelle einrührten). Sonderlich große Unterschiede gab es zwischen den beiden Sängern nicht, aber die Blankenburger nutzten die Möglichkeiten doch aus, um einerseits ein paar feine zweistimmige Parts einzubauen und andererseits speziell die Refrains mit doppelter Stimmgewalt ins Publikum zu schleudern. Selbiges nahm die Aufforderung zum Bewegen dann auch dankbar an. Einen Extrapunkt verdiente sich die Combo mit dem kultigen Namen, als eines ihrer Mitglieder (der Bassist, wenn ich mich recht erinnere) zur Posaune griff und damit die Komposition veredelte, wohingegen der etatmäßige Trompeter solide agierte, aber keine großen Akzente setzen konnte. Insgesamt heimsten Ska't so 65% der erreichbaren Punkte von mir ein und verwiesen Boing Agrupapulci mit 62,5% auf den zweiten Platz. In der Gesamtwertung war der Einlauf schließlich umgekehrt: Hier blieb aufgrund der von einigen Jurykollegen bemängelten geringen Innovation für Ska't der Silberrang.
Damit endete ein erneut recht vielversprechendes Rock Open, das seinem Ziel, jungen Bands auf dem Weg nach oben einen kleinen Push zu geben, wieder einmal entsprach. Das mittlerweile recht ordentlich gefüllte Rabet beklatschte die Sieger ordentlich, und diese durften anschließend noch einen Gewinnerset spielen, den ich mir aufgrund einsetzender rapider Müdigkeit aber nicht mehr anschaute.
 






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