www.Crossover-agm.de
Folk mir in die Kirche
Pete Morton    10.05.2000    Leipzig, Friedenskirche
von kb

Was tut man mit einer Kirche, in der keine Gottesdienste mehr gehalten werden? Man kann sie, wie in der Sowjetunion geschehen, als Lagerraum zweckentfremden, eben damit keine Gottesdienste mehr darin stattfinden. Man kann sie auch, wie im mit Gläubigen aller Art gefüllten Irland, als Frühstücksraum einer Jugendherberge nutzen - offenbar sind selbst dort Kirchen in der gegebenen Anzahl inzwischen nicht mehr vonnöten. Man kann auch versuchen, eine baufällige Kirche, die der Gemeinde zu groß geworden ist, dennoch zu erhalten und für kulturelle Konzepte zu nutzen. Letzteres fordert, da wenig gewinnträchtig, Ideen, Einsatz und das Engagement einiger freundlich gesinnter Sponsoren. Es kann allerdings passieren, dass man dafür eine volle Kirche mit einer andächtig lauschenden Gemeinde erhält. Wer wie ich seinen Spaß eher auf der Seite der musizierenden Gemeinde sucht und findet, kann immer wieder nur staunen über die andere Seite, die offenbar ihren Spaß darin findet, Konzerte zu organisieren und eine Menge Stress auf sich zu nehmen, mit ungewissen Erfolgszahlen.

Love, Peace(church) & Music
Derartige Dinge spielen sich in der Leipziger Friedenskirche in Gohlis ab, wo ein gemeinnütziger Verein sich unter der Führung des Pfarrers der Gemeinde (die inzwischen in die nahe gelegene Michaeliskirche „umgezogen“ ist), um „alternative Konzepte“ bemüht. Grundsätzlich ist man da für sehr Vieles offen; bisherige eigene Initiativen setzten den Schwerpunkt im Ausstellungs- und Musikbereich. Pfarrer Martin Steinhäuser hat ein Faible für alles, was mit der englischen Sprache zu tun hat, und so kann es nicht verwundern, dass in diesem Jahr zum zweiten Mal der Bluespianist und musikalische Geschichtenerzähler Paul Millns dort gastierte; vorher jedoch, im schönen Monat Mai, war der englische Folksänger Pete Morton eingeladen, der hier unter anderem Titel seines aktuellen Albums „Courage, Love & Grace“ (Mut, Liebe & Gnade) vorstellte.

Lamm und Löwe
Folksänger? Vermutlich ein lammfrommer Typ mit Gitarre, langen Haaren und selbstgestricktem Ökopullover, der Lieder über die gute alte Zeit singt oder solche, bei denen einem der Whiskyduft in die Nase steigt (oder der von der Nordseeküste). Gitarre - ja, alles andere - Fehlanzeige. Dass Pete in jüngeren Jahren eher dem Punkrock zugetan war, hätte man erfahren können, wäre man zum „Gespräch mit dem Künstler“ gekommen. Ich muss weiter ausholen: Es handelte sich um eine weitere zur Nachahmung dringend empfohlene Idee von ... nun, ich will nicht dauernd Namen nennen. In der Vorbereitungsphase des Konzertes wurden Englischlehrer/innen und Schüler/innen eingeladen, sich mit Petes Texten im Unterricht zu beschäftigen und ihn in einem Gespräch vor dem Konzert auszuhorchen. Leider kamen von den 12 angekündigten Gymnasiasten nur fünf, doch um so intensiver wurde das Gespräch, nachdem die erste Scheu vor dem Künstler und der fremden Sprache überwunden war. Man kann so etwas vielleicht nicht jedem Musiker zumuten; Pete Morton schon. Ihm ist daran gelegen, ein anderes Bild vom „folk singer“ zu vermitteln, und er ist darüber hinaus durchaus gewillt, Erklärungen zum Inhalt seiner (bzw. der traditionellen Lieder) abzugeben, seine Meinung kundzutun und die von anderen einzuholen. Zum Beispiel zu einem der wenigen Lieder, die weder von Pete selbst noch von der Tradition geschrieben wurden, sondern von einem gewissen Herrn Smith, seines Zeichens ehemaliger Punkrocker. "The Lion and the Lamb" (Löwe und Lamm) kann durchaus vor biblischem Hintergrund gesehen werden, bezieht sich aber nach Petes Meinung in erster Linie auf das Phänomen, dass der Mensch ganz unterschiedliche Seiten hat, und dass das so auch in Ordnung geht.

Fortsetzung folkt
Nach gebührender Pause folgte dem gemütlichen Gespräch im Gemeindehausgarten das Konzert in der Kirche. Dank des herrlich warmen Wetters summte der Vorplatz wie ein Bienenstock: Man labte sich an den vom Verein vorbereiteten Brötchen, trank dazu Saft, Bier oder Wein und plauderte gemütlich auf der Banke mit Bekannten. Es liegt sicher auch an der ansprechend gestalteten und geschickt eingesetzten Werbung, dass die Kirche voll wurde mit Menschen jeden Alters, von denen (so vermute ich) ein großer Teil noch nie einen Ton von Herrn Morton gehört haben dürfte. Vermutlich bürgt der Name des Vereins inzwischen für Qualität, und das zu Recht.
Was soll ich sagen, es war ein schönes Konzert mit vielen Geschichten, lauten und leisen Tönen, ohne technische Spielereien oder fingerbrecherische Gitarrentricks (damit keine Missverständnisse aufkommen: die Stufe der drei Akkorde im Punk - oder Folk übrigens! - hat der Kollege natürlich inzwischen weit hinter sich gelassen!), vielmehr ehrlich. Pete versteht es, uralte Balladen mit ebenso viel Inbrunst vorzutragen wie aktuelle Protestsongs gegen die tägliche Verblödung. Und wenn die Bänke einer Kirche mit Menschen gefüllt sind, die nicht einschlafen, wenn jemand von Mut, Liebe und Gnade erzählt, was kann sich eine Kirche Schöneres wünschen?
Vielleicht, dass sie so etwas noch einmal erleben darf. Nun, der Kirche kann geholfen werden. Der Friedenskirche Leipzig-Gohlis e.V. plant ein weiteres Konzert mit Pete Morton im September/Oktober 2001 (also nächstes Jahr) - der Termin wird sicher in CrossOver erscheinen. Wer darüber hinaus selbst eine Gelegenheit sucht und sieht, Pete Morton für ein Konzert in Kirche, Klub, Keller, Kulturkneipe, Küche oder sonstwo zu engagieren, oder wer sonst eine gute Idee hat, wie man den Aufenthalt des Kollegen ausnutzen könnte, wende sich schnellstens an Martin Steinhäuser, im Vereinsrahmen zu erreichen unter Tel. 0341-5645509 oder Fax 0341-5645513. Einen Eindruck vom Konzert im Mai kann man sich anhand des auf CD gepressten Mitschnittes verschaffen, der in limitierter Auflage ebenfalls zu Gunsten der Friedenskirche verkauft wird.
 






www.Crossover-agm.de
© by CrossOver